Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am Donnerstag, den 24. Februar, ist bereits mehr als eine Woche verstrichen. Nach einem grossen Kurssturz an den weltweiten Aktienmärkten am ersten Tag der Invasion hat sich die Situation seither vordergründig beruhigt. Der Swiss Market Index (SMI) hat seit Kriegsbeginn "nur" 1,1 Prozent verloren. Wer auf den Schweizer Leitindex, den Stoxx 600 oder den S&P 500 blickt, käme kaum auf die Idee, dass in Europa Krieg herrscht. Oder dass der Westen - inklusive Schweiz - Sanktionen ergriffen hat, die den Rubel haben abstürzen lassen und die russische Wirtschaft belasten.
Eine Erklärung hierfür ist sicherlich, dass Ukraine und Russland keine wirtschaftlichen Schwergewichte sind. Russland hat eine kleinere Wirtschaftsleistung als Italien, läuft also unter ferner liefen. Doch die Situation hat das Potenzial für weitere Verwerfungen: Investoren blenden sowohl die Abhängigkeit Europas von russischem Öl und Gas als auch die Gefahr eines Flächenbrandes aus. Dass die vorherrschende Unsicherheit jederzeit in weitere Kursverluste münden kann, ist an den Volatilitätsindizes ersichtlich. Das Angstbarometer für den SMI, das die Schwankungsbreite für die nächsten 30 Handelstage ausdrückt, befindet sich mit knapp 27 Punkten nur leicht unter dem Stand zu Kriegsbeginn.
Während der Krieg in der Ukraine an der Schweizer Börse auf der Indexebene zu keinen aussergewöhnlich grossen Bewegungen geführt hat, haben bei einzelnen Aktien grosse Bewegungen stattgefunden. Wer die Gewinner im SMI betrachtet, könnte überrascht werden. Unter diesen befinden sich mit dem Pharmaauftragsfertiger Lonza (+5,5 Prozent), dem Duftstoffspezialisten Givaudan (+5,2 Prozent) und dem Computerzubehörhersteller Logitech (+4,0 Prozent) gleich drei Wachstumstitel. Ein Hauptgrund für das Wiedererstarken dieser Anfang Jahr stark abgestraften Titel: Die Renditen der US-Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit haben sich seit Kriegsbeginn von knapp 2 Prozent auf 1,86 Prozent reduziert. Die Abdiskontierung der zukünftigen Gewinne vermindert sich damit, was den Wachstumswerten zugutekommt.
Sowohl Lonza, Givaudan als auch Logitech könnten in den nächsten Monaten davon profitieren, dass die Marktakteure ihre Erwartungen an die Geldpolitik wegen der Konjunktureintrübung weiter anpassen. Wurde vor dem Krieg noch mit einer Straffung der US-Notenbank Fed im März von 50 Basispunkten gerechnet, sind es jetzt nur noch 25 Basispunkte. Während Givaudan und Lonza mit einem vorwärtsgewandten Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 42 respektive 39 relativ teuer sind, bietet Logitech mit einem KGV von 16 eine deutlichere Kaufchance.
SMI-Aktien seit Kriegsbeginn in der Ukraine (Grafiken: Bloomberg).
Die Schwergewichte Novartis (+0,8 Prozent), Roche (+0,3 Prozent) und Nestlé (-0,0 Prozent) beweisen in der Krise ihre defensiven Qualitäten. Gleiches gilt für den Telekomkonzern Swisscom (+1,7 Prozent), dessen Aktien seit Jahresbeginn die beste Performance im SMI aufweisen. Auf dem aktuellen Niveau für einen Kauf am vielversprechendsten ist wohl die Aktie des Pharmakonzerns Novartis, dessen vorwärtsgerichtetes KGV bei 14 liegt. Zusätzlich winkt eine Dividendenrendite von 3,9 Prozent. Zur Krisen-Absicherung des Portfolios eigenen sich aber alle vier Titel, wie die letzten Tage wieder einmal deutlich machen.
Kurskorrektur bei Swiss Re, Swiss Life oder Zurich Insurance als Chance
Seit Kriegsbeginn unter Druck sind hingegen Finanzwerte wie Swiss Re (-14,9 Prozent), UBS (-10,7 Prozent), Credit Suisse (-6,8 Prozent), Swiss Life (-4,7 Prozent) oder Zurich Insurance (-3,0 Prozent). Während Swiss Re seit letztem Freitag nach enttäuschenden Jahreszahlen im Verkaufsfenster steht, leiden die Titel der beiden Grossbanken unter den sinkenden Renditen und dem Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungssystem Swift. Letzteres dürfte nicht ohne wirtschaftliche Folgen für den europäischen Bankensektor bleiben.
Bei den Bankentiteln ist wegen der sinkenden Zinsen und der verhängten Sanktionen weiterhin Vorsicht angebracht. Chancen ergeben sich hingegen im Angesicht der anstehenden Dividendensaison bei den Aktien der Versicherungen. Die Dividendenrendite bei der Swiss Re liegt bei hohen 7,3 Prozent. Aber auch die Ausschüttungen bei der Swiss Life mit 4,5 Prozent und bei der Zurich Insurance mit 5,4 Prozent sind nicht ohne. Ein Kauf in der aktuellen Schwäche könnte sich als gewinnbringende Strategie erweisen. Der Favorit der Analysten: Zurich Insurance.
Mit Richemont (-7,7 Prozent) und Holcim (-5,1 Prozent) befinden sich auch zwei zyklische Titel unter den Verlierern. Bei beiden Titeln macht sich bemerkbar, dass sich mit dem Krieg in der Ukraine und den verhängten Sanktionen gegen Russland die weltweiten Konjunkturaussichten eintrüben. Bei Holcim fallen auch die gestiegenen Energiepreise stark ins Gewicht, handelt es sich doch bei der Zementherstellung um einen energieintensiven Produktionsprozess. Diese beobachtbare Entwicklung steht im starken Kontrast zum Kursgewinn von Sika (+2,7 Prozent). Der entscheidende Unterschied zwischen den Zyklikern: Bei Sika gehen Analysten davon aus, dass das Unternehmen die höheren Rohstoffkosten problemlos weitergeben kann.
Die Verluste beim Swiss Performance Index (SPI) fallen mit einem Minus von 0,9 Prozent ebenfalls nicht aus dem Rahmen. Einen regelrechten Kurssprung erlebte mit dem Ausbruch des Krieges jedoch der Solarmodulhersteller Meyer Burger (+32,1 Prozent). Europa kommt zukünftig nicht darum herum, mehr in erneuerbare Energien zu investieren, um die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu reduzieren. Vor den Jahreszahlen am 24. März ist eine Investition in den Titel aber eine riskante Wette. Erst dann erfahren Investoren mehr darüber, ob das Unternehmen mit dem neuen Geschäftsmodell auch entsprechenden Umsatz und Gewinn generieren kann.
Burckhardt Compression dank Preisanstieg bei Öl und Gas im hoch
Während der Verbundwerkstoffspezialist Gurit (+12,6 Prozent) - die produzierten Leichtbaumaterialen werden in Windkraftanlagen verbaut - auch im Zuge des Ukraine-Kriegs vom Widererstarken der "grünen" Aktien profitiert hat, ist der Kursanstieg beim Verpackungsmaschinenhersteller Bobst (+18,5 Prozent) ganz anderer Natur. Das Unternehmen hat mit den Jahreszahlen am letzten Freitag nebst einer ordentlichen Dividende eine drei Mal so hohe Sonderdividende angekündigt. Wegen des positiven Ausblicks und der weitergehenden Margenexpansion bleibt der Industrietitel ein Kauf.
Unter den Gewinnern befindet sich auch Burckhardt Compression (+12,5 Prozent). Der Titel nähert sich damit in grossen Schritten dem Allzeithoch von Mitte Januar. Burckhardt Compression ist der führende Anbieter von Kolbenkompressoren zum Verdichten, Kühlen oder Verflüssigen von Gas. Diese werden im Transport und in der Lagerung von Gas, in der Öl- und Gasproduktion, der Raffinerie, der Petrochemie und der Industriegasproduktion verwendet. Steigt der Preis von Öl und Gas wie jetzt in der Krise, bedeutet dies in der Regel steigende Auftragseingänge. Zudem ist das Unternehmen auch bezüglich des anstehenden Booms im Wasserstoffbereich gut positioniert. Auch dort werden Kolbenkompressoren zum Verdichten verwendet. Mit einem vorwärtsgewandten KGV von 23 gehört der Titel zumindest auf die Beobachtungsliste.
SPI-Aktien seit Kriegsbeginn in der Ukraine (Grafiken: Bloomberg).
Ein regelrechter Ausverkauf fand bei den Aktien von Montana Aerospace (-27,7 Prozent) statt - die Aktie befindet sich damit 17 Prozent unter dem IPO-Preis vom letzten Mai. Das Unternehmen, an dem der österreichische Investor Michael Trojner via Montana Tech Components die Mehrheit hält, stellt Komponenten und Bauteile für die Luftfahrtindustrie her und wächst an sich kräftig. Solange Montana Aerospace nicht auch beim Gewinn deutlich zulegen kann, ist der Titel auch in der aktuellen Schwäche kein Kauf.
Vorsicht angebracht ist auch bei den Aktien von Medmix (-15,9 Prozent) und Sulzer (-15,5 Prozent). Bei beiden besitzt der russische Oligarch Viktor Vekselberg über Beteiligungskonstrukte bedeutende Anteile - dies gilt auch für Oerlikon, Swiss Steel und Züblin. Inwiefern die westlichen Sanktionen hier schlussendlich ein Problem darstellen, ist mit viel Unsicherheit behaftet. cash.ch hat hier über die Thematik berichtet. Auch in der Anlegergunst gesunken sind die Aktien von Stadler Rail. Der Krieg in der Ukraine führt beim Zugbauer zu bedeutenden operativen Risiken, zumal die Gruppe in Weissrussland seinen zweitgrössten Produktionsstandort hat. Finger weg, solange nicht mehr Klarheit herrscht.
Der Kursverlust bei SoftwareOne (-16,5 Prozent) hat hingegen wenig bis gar nichts mit dem Ukraine-Krieg zu tun, sondern mit den am Donnerstag präsentierten Jahreszahlen. Der IT-Dienstleister hat ein Kostenproblem, was sich in einer gesunkenen EBITDA-Marge widerspiegelt. Auch mit einem Kursniveau, das nur noch minimal über dem vom Corona-Taucher im März 2020 liegt, und einem vorwärtsgewandten KGV von 15 ist der Titel weiterhin kein Kauf.