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Während das Übernahmekarussell in Übersee schon seit Monaten munter dreht, läuft es auch in Europa langsam aber sicher an. Entgegen anders lautenden Befürchtungen haben sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf dem alten Kontinent nicht mehr weiter eingetrübt. Viele Unternehmen sitzen auf gewaltigen Barmittelreserven oder verfügen zumindest über sehr solide Bilanzen.
Darf man den Strategen der Mainfirst Bank Glauben schenken, dann gibt es kaum einen besseren Nährboden für eine Belebung der Übernahme- und Fusionstätigkeit. Durch die Produktionslücke, sprich die Abweichung des realisierten Bruttoinlandprodukts vom Produktionspotenzial, mache es für Unternehmen mehr Sinn, sich durch Übernahmen neue Produktionskapazitäten zu sichern als diese in eigener Regie aufzubauen.
Führe die Europäische Zentralbank negative Einlagenzinsen ein, würden in den nördlichen europäischen Ländern die jetzt schon negativen realen Zinsen noch weiter fallen. Dasselbe gelte für die Schweiz, sei die Schweizerische Nationalbank doch geradezu zur Nachahmung verdammt. Auch dieser Umstand spreche für eine Beschleunigung des Übernahmekarussells, so die Experten.
Eigenen Angaben zufolge deckt die Mainfirst Bank die Aktien von rund 300 europäischen Unternehmen ab. Die verantwortlichen Strategen haben davon 81 Firmen ausgemacht, bei denen Übernahmen, Bereichsverkäufe oder Zusammenschlüsse unmittelbar auf der Traktandenliste stehen könnten. Darunter auch mehrere Schweizer Unternehmen.
Sika und OC Oerlikon sind den Experten zufolge eher im Lager der Jäger als in jenem der Gejagten anzusiedeln. Bei Sika seien Übernahmen ein integraler Teil der Strategie. Über die vergangenen zwölf Monate habe der Baumaterialhersteller nicht weniger als acht Mal zugeschlagen. Dennoch verfüge die Firma über weitere Mittel, um den stark fragmentierten Markt zu konsolidieren. Aus heutiger Sicht könne Sika Übernahmen im Gegenwert von 1,9 Milliarden Franken stemmen, ohne eine Kapitalerhöhung durchführen oder bei der Bonitätsnote Einbussen hinnehmen zu müssen. OC Oerlikon hingegen habe sich in den letzten Jahren neu ausgerichtet, verfüge aber über weiteren Anpassungsbedarf. Das Firmenportfolio erstrecke sich über viele Geschäftsbereiche und berge nur begrenzt Synergien. Selbst nach der Übernahme von Sulzer Metco verfüge OC Oerlikon noch immer über Nettobarmittel von rund 150 Millionen Franken. Den Strategen zufolge sind weitere Übernahmen deshalb so sicher wie das Amen in der Kirche. In beiden Fällen sehen sie Raum für eine substanzielle Schaffung von Aktionärswerten und positive Impulse für die jeweiligen Aktien.
Grössere und gewinnverdichtende Übernahmen trauen die Strategen hierzulande auch Forbo, Sulzer, Burckhardt Compression, Georg Fischer, Givaudan, Richemont, Swatch Group, Swiss Re und Roche zu. Bei Holcim, Lonza, Schmolz+Bickenbach sowie Richemont seien hingegen Bereichsverkäufe wahrscheinlich.
Handlungsbedarf machen die Experten auch bei AFG aus. Und obschon es nicht sehr wahrscheinlich sei, zählen sie den Ostschweizer Bauzulieferer zu den potenziellen Übernahmekandidaten. Das Unternehmen verfüge über eine für einen Käufer attraktive Marktstellung in der Schweiz und in Deutschland mit einem Umsatzanteil von mehr als 70 Prozent. Ausserdem sei der frühere CEO und Verwaltungsrat Edgar Oehler seit April nicht mehr operativ tätig, halte aber noch immer ein Aktienpaket im Umfang von 18,4 Prozent.
Mit Bâloise und der National-Versicherung zählt die Mainfirst Bank hierzulande zwei immer mal wieder im Zentrum von Spekulationen stehende Versicherungsunternehmen zu den Übernahmekandidaten. Eine solche sei voraussichtlich jedoch erst nach der Umsetzung der neuen Eigenmittelvorschriften in einigen Jahren zu erwarten. Bâloise könnte für bis zu 140 Franken je Aktie über den Ladentisch gehen, was gut einen Drittel über dem aktuellen Kursniveau liege. Dank umfassenden Synergien mit der Grossaktionärin Mobiliar sei bei der National-Versicherung sogar ein Übernahmeangebot von bis zu 70 Franken je Aktie möglich. Dies nicht zuletzt auch des auf 300 Millionen Franken geschätzten Überschusskapitals wegen.
Temenos zählen die Experten sowohl ins Lager der Jäger als auch in das der Gejagten. Bis in wenigen Jahren werde der Genfer Hersteller von Bankensoftware Nettobarmittel von mehr als 300 Millionen Dollar angehäuft haben. Gut möglich, dass das Unternehmen grössere Übernahmen tätigen und die zukünftigen Gewinne substanziell verdichten werde. Als unangefochtener Marktführer und aufgrund überzeugender langfristiger Wachstumstreiber in den Absatzmärkten sei aber auch eine Übernahme von Temenos durch einen Rivalen denkbar.
Ungewöhnlich ist, dass auch der Halbleiterhersteller AMS zu den möglichen Übernahmekandidaten gezählt wird. Erst kürzlich habe Cirrus Logic den schottischen Konkurrenten Wolfson übernommen und dabei tief in die Tasche gegriffen. Vermutlich stehe AMS bei zahlreichen Halbleiterunternehmen ganz oben auf der Wunschliste. Als Interessent wird unter anderem der grosse amerikanische Rivale Broadcom genannt. Aufsehenerregend ist, dass die Mainfirst Bank ein Übernahmeangebot von bis zu 360 Franken je Aktie für wahrscheinlich hält.
Auf ein Übernahmeangebot von 200 Franken je Aktie dürften sich die Publikumsaktionäre von Panalpina freuen. Das in Basel beheimatete Transportunternehmen passe ins Beuteschema nahezu aller grossen Mitbewerber wie DHL, UPS, Fedex, Deutsche Post und sogar Kühne+Nagel. Die weltweite Präsenz sei geradezu einladend und das erst kürzlich eingeführte SAP-System einfach zu skalieren. Einzige Hürde sei die Goehner-Stiftung, die mit einer Beteiligung von 44 Prozent ein gewaltiges Wort mitzureden hätte.
Die mir zugespielte knapp 50 Seiten starke Strategiestudie aus dem Hause Mainfirst Bank kann sich sehen lassen. Ich habe selten eine derart fundierte Arbeit gesehen. Ob und in welchem Ausmass die genannten Schweizer Unternehmen tatsächlich in Übernahmen, Bereichsverkäufe oder Zusammenschlüsse mithineingezogen werden, wird sich zeigen müssen. An dieser Stelle sei gesagt, dass Wetten auf die Aktien der als Übernahmekandidaten genannten Firmen ganz klar einen spekulativen Charakter haben. Manchmal gehen sie auf, manchmal aber auch nicht.
In der Vergangenheit wiesen oft nur die Aktien der übernommenen Unternehmen steigende Kursnotierungen auf. Jene der Käufer wurden hingegen abgestraft. In den letzten Monaten konnten allerdings die Papiere jeweils beider Firmen zulegen. Es überrascht deshalb nicht, dass die Mainfirst Bank in der Studie auch mögliche Jäger nennt und nicht nur die Gejagten.