Die Lage in dem nordafrikanischen Land ist angesichts einer Wirtschaftskrise, wachsender Armut und eines zerfallenden politischen Systems angespannt. Lange Zeit wurde Tunesien als Vorbild eines demokratischen Wandels in der arabischen Welt betrachtet. Doch die Errungenschaften der Revolution, die vor über einem Jahrzehnt den Grundstein des Arabischen Frühlings legte, gelten Beobachtern zufolge als zunehmend bedroht. Präsident Kais Saied baute seine Macht im Laufe seiner Amtszeit schrittweise aus: Zunächst löste der 64-jährige Verfassungsrechtsprofessor das Parlament auf, entmachtete die Wahlkommission, entliess zahlreiche Richter und änderte zuletzt über ein Referendum die Verfassung zu seinen Gunsten.
Seit Mitte 2021 regiert er per Dekret, das entmachtete Parlament gleicht einem zahnlosen Tiger. Sein Vorgehen rechtfertigt der umstrittene Präsident mit der Notwendigkeit, einen politischen und wirtschaftlichen Stillstand zu überwinden. Kritiker hingegen sehen Tunesien, das als einziges Land als Demokratie aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen ist, auf dem Weg zu einer Diktatur, die mit der Wahl nun einen Schritt näher rücke.
«Warum sollte ich wählen? Mein Land hat mir nichts gegeben»
Bei vielen Tunesiern scheint die Parlamentswahl wenig Begeisterung hervorzurufen. Die grossen Parteien boykottieren die Wahl, weil sie die im Zuge der Reformen eingeführte Legislativkammer für illegal halten. Bereits die Wahlbeteiligung beim Verfassungsreferendum im Juli lag bei nur 30 Prozent. Vor allem junge Menschen zeigten sich enttäuscht. "Die Jugend hat nicht von der Revolution profitiert, die sie ins Leben gerufen hat. Sie ist nicht in der Politik präsent. Es war eine Jugendrevolution, die von den alten Leuten im Stich gelassen wurde", sagt Chamseddine Marzouk aus der Küstenstadt Zarzis. "Warum sollte ich wählen? Mein Land hat mir nichts gegeben", argumentiert der 19-jährige Challahki, der wie die meisten seiner Freunde arbeitslos ist.
Der Unmut in der Bevölkerung wegen der wirtschaftlichen Schieflage des Landes ist gross. Im Zuge der Corona-Pandemie ist die Wirtschaft um 8,5 Prozent geschrumpft. Die Folgen spüren die Menschen tagtäglich: Die Regale in den Supermärkten sind leer, während sich die Regierung um eine internationale Rettungsaktion bemüht. Ende September kam es bereits zu Protesten gegen starke Preissteigerungen und die Verknappung von Lebensmitteln.
«Kritische Stimmen zum Wahlprozess zu drangsalieren»
Derweil wirft Tunesiens wichtigste Journalistengewerkschaft der nationalen Wahlkommission vor, im Dienste der Behörden zu stehen und Journalisten mit der Androhung von Strafverfolgung zum Schweigen bringen zu wollen. Die Kommission habe mit wiederholten Schreiben versucht, "kritische Stimmen zum Wahlprozess zu drangsalieren", erklärte die Gewerkschaft. Einige Journalisten werfen der Kommission vor, sich polizeiähnlich zu verhalten und wegen der Berichterstattung mit rechtlichen Schritten zu drohen. Ein Sprecher der Wahlkommission erklärte, dass die an die Medien gerichteten Schreiben keine Drohungen darstellten. Eine wachsende Zahl von Journalisten hatte sich zuletzt der Kritik an der Kommission angeschlossen, bei der deren Unabhängigkeit angezweifelt wurde. Präsident Saied hatte die Kommission im April neu besetzt und damit das alte Gremium entmachtet.
(Reuters)