Der Einsatz bei Tageslicht in Nuseirat sei mehrere Wochen vorbereitet worden, sagte Armee-Sprecher Peter Leiner. Er sprach von einer komplexen und auch riskanten Aktion der Spezialeinheiten. «Der Schlüsselfaktor war der Überraschungsangriff.» Die beiden von der Hamas bewachten Wohngebäude, in denen sich die Geiseln befunden hätten, lägen nur ein paar 100 Metern voneinander entfernt.

Nach einem Bericht der «New York Times» half ein Team von US-Experten für die Geisel-Befreiung in Israel bei der Vorbereitung der Aktion, indem sie Informationen und «andere logistische Unterstützung» bereithielten. Die Zeitung berief sich dabei auf einen amerikanischen Informanten.

Bei Musikfestival im Oktober entführt

Bei den Befreiten handelte es sich den Angaben zufolge um eine 25 Jahre alte Frau und drei Männer im Alter von 21, 27 und 40 Jahren. Sie seien am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival verschleppt worden, hiess es. Damals drangen Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen aus dem Gazastreifen in den Süden Israels ein, töteten mehr als 1200 Menschen und nahmen über 250 Geiseln. Das Massaker löste den Krieg in dem Küstengebiet aus.

Der israelische Militärsprecher Hagari sagte, es befänden sich noch 120 Geiseln der insgesamt mehr als 250 aus Israel verschleppten Menschen im Gazastreifen. Es wird befürchtet, dass ein Grossteil von ihnen nicht mehr am Leben ist.

Seit Beginn des Gaza-Kriegs wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 36 000 Menschen getötet und weitere über 83 000 Personen verletzt. Diese Angaben, die nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheiden, lassen sich derzeit nicht unabhängig verifizieren. Israels Armee steht wegen ihres Vorgehens im Gazastreifen und der hohen Zahl ziviler Opfer international stark in der Kritik.

Drohung der Hamas

Der Hamas-Sprecher Abu Obaida drohte nach der Befreiung der Geiseln auf Telegram, «die Operation wird eine grosse Bedrohung für die Gefangenen des Feindes darstellen». Sie könne sich negativ auf ihr Leben auswirken, sagte Obaida, der dem militärischen Flügel der Hamas - den Al-Kassam-Brigaden - zugerechnet wird.

Über die Zahl der Todesopfer infolge der Befreiungsaktion herrschte Unklarheit. Nach Angaben einer Behörde der islamistischen Hamas wurden 210 Palästinenser getötet. In Nuseirat seien zudem rund 400 Menschen verletzt worden. Die Angaben liessen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde sowie medizinische Kreise im Gazastreifen hatten zuvor von 55 Toten gesprochen. Israels Armee-Sprecher Hagari wiederum sprach am Abend von weniger als 100 Todesopfern. «Ich weiss nicht, wie viele davon Terroristen sind», sagte er.

Nach Darstellung des militärischen Arms der Hamas sollen bei der Rettung auch einige Geiseln getötet worden sein. Die Angaben der Terrororganisation liessen sich nicht unabhängig überprüfen. Israels Armee teilte dazu mit, die Hamas setze psychologischen Terror ein, um ihre Ziele zu erreichen. «Dementsprechend sollten ihre Aussagen mit begrenzter Verbindlichkeit betrachtet werden.»

Der Auslandschef der Hamas, Ismail Hanija, bezeichnete Israels jüngste Einsätze in Gaza als «Massaker» an den Palästinensern. «Der Feind setzt sein Massaker gegen unser Volk, unsere Kinder und Frauen, in Nuseirat und Deir al-Balah fort», teilte Hanija mit. Israel habe «militärisch, politisch und moralisch versagt». Es blieb unklar, ob er sich direkt auf die Nachricht über die Befreiung der Geiseln aus Gewalt der Hamas bezog.

Kundgebungen in Israel

Nach der Befreiung versammelten sich in Israel zahlreiche Menschen, um einen Geisel-Deal sowie Neuwahlen zu fordern. Bei einer Hauptkundgebung in der Küstenstadt Tel Aviv versammelten sich örtlichen Medien zufolge Zehntausende. Auch in Haifa und Jerusalem kamen demnach jeweils tausende Demonstranten zusammen.

Bei den Protesten in Tel Aviv kam es den Berichten zufolge zu Zusammenstössen mit der Polizei. Wie die Internet-Zeitung «The Times of Israel» unter Berufung auf die Polizei berichtete, wurden 33 Protest-Teilnehmer, die eine Strasse blockieren wollten, festgenommen. Seit Monaten gibt es in Israel immer wieder Massenproteste gegen die Regierung und für die Freilassung der noch immer im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln.

Geisel-Befreiung international begrüsst

EU-Chefdiplomat Josep Borrell begrüsste die Befreiung der israelischen Geiseln bei einem Militäreinsatz im Gazastreifen, äusserte sich aber gleichzeitig angesichts der Berichte über ein «Massaker an Zivilisten» entsetzt. «Das Blutbad muss sofort beendet werden», forderte er auf der Plattform X. «Die Berichte aus Gaza über ein weiteres Massaker an Zivilisten sind entsetzlich.» Zur Befreiung der Entführten erklärte er: «Wir teilen die Erleichterung ihrer Familien und fordern die Freilassung aller verbleibenden Geiseln.»

Bundesaussenministerin Annalena Baerbock äusserte ihre Hoffnung auf ein Ende des Gaza-Kriegs. «Die Hamas hat es in der Hand und muss dem Vorschlag für ein Abkommen über eine Feuerpause zustimmen», sagte die Grünen-Politikerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Sonntag). «Es liegt auf dem Tisch und kann der Einstieg in das Ende des Kriegs sein.»

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zuvor die Befreiung als «wichtiges Zeichen der Hoffnung» bezeichnet. Die Hamas müsse endlich alle Geiseln freilassen, und der Krieg müsse enden.« Auch US-Präsident Joe Biden und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron begrüssten die Befreiung der Geiseln.

Proteste in Washington

Bei einem Protest vor dem Weissen Haus in der US-Hauptstadt Washington erinnerten in rot gekleidete Menschen mit einem langen roten Banner an die »rote Linie«, die US-Präsident Biden im März mit Blick auf eine grossangelegte Bodenoffensive der israelischen Armee in der Stadt Rafah ausgesprochen hatte. Auf Plakaten wurde unter anderem eine Waffenruhe gefordert und der Stopp von US-Waffenlieferungen an Israel. Es wurde auch der Vorwurf des Völkermords erhoben. Der Protest war am Nachmittag aber friedlich, wie eine dpa-Reporterin vor Ort berichtete. Ein Polizist schätzte die Teilnehmerzahl auf Nachfrage auf »einige Tausend" ein, konnte aber keine genaueren Angaben machen.

(AWP)