Das Zürcher Obergericht hat das erstinstanzliche Urteil gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz aufgehoben. Die Anklageschrift sei zu ausschweifend gewesen, was die Verteidigung erschwert habe.

Das Bezirksgericht Zürich hatte Vincenz und vier Geschäftspartner im April 2022 zu teilweise mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Dieses Urteil zogen die Beteiligen vor das Zürcher Obergericht, das sich eigentlich im Juli 2024 mit dem Fall auseinandersetzen wollte.

Doch zu dieser Berufungsverhandlung kommt es nun nicht, wie das Obergericht Zürich am Dienstag mitteilte: Es hat das erstinstanzliche Urteil wegen «schwerwiegenden Verfahrensfehlern» aufgehoben und das Strafverfahren an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Diese müsse die Anklage überarbeiten und sie dann erneut bei der ersten Instanz, dem Bezirksgericht, einreichen.

«Stellenweise unnötig ausschweifend»

Das Obergericht stufte das Anklageprinzip als verletzt ein: Eine beschuldigte Person müsse aus der Anklage erkennen können, wessen sie angeklagt sei, damit sie ihre Verteidigung vorbereiten könne, heisst es im Beschluss. Dies könne nicht nur eine zu knapp gehaltene, sondern auch eine zu dicke Anklageschrift verunmöglichen.

Die 356-seitige Anklageschrift im Vincenz-Fall sei teilweise wiederholend, führe regelmässig nicht relevante Ereignisse, Vorgeschichten und Hintergrundinformationen an und sei stellenweise unnötig ausschweifend, hält das Obergericht fest. Damit rücke sie in die Nähe einer unzulässigen Begründung und grenze als Rechtsschrift an ein eigentliches erstes Plädoyer.

Zudem blieben gewisse Delikte teilweise unbestimmt und pauschal. Diese müssten erst aus der Anklageschrift herausgeschält werden. Das sei aber nicht Aufgabe der Beschuldigten oder des Gerichts. Damit bleibt für das Obergericht nur der Schluss übrig: «Insgesamt genügt die Anklageschrift den Anforderungen nicht.»

Dass für einen französischsprachigen Beschuldigten nur Auszüge aus der Anklageschrift übersetzt worden seien, sei im Weiteren auch zu wenig, so das Obergericht. Dies stelle eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Fairnessgebots dar.

Keine Aussage zur Schuldfrage

Bei der erfolgten Rückweisung des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft handelt es sich um einen rein technischen Entscheid: Zur Frage von Schuld oder Unschuld äussert sich das Zürcher Obergericht in seinem Beschluss nicht. Die Vermögenswerte bleiben denn auch vorerst weiterhin sichergestellt.

Mit den im Raum stehenden Vorwürfen inhaltlich auseinandersetzen wird sich - sofern und nachdem eine neue Anklage eingegangen ist - dann erneut das Bezirksgericht in erster Instanz.

Diese Zusatzrunde dürfte, auch wenn sie einige Zeit in Anspruch nehmen wird, bezüglich einer allfälligen Verjährung von Delikten keine Rolle spielen. Liegt ein erstinstanzliches Urteil vor, kann der darin beurteilte Sachverhalt nicht mehr verjähren. Und auch wenn dieses erste Urteil später aufgehoben wird, beginnt die Frist gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht erneut zu laufen, wie das Obergericht in seinem Beschluss festhält.

Die Zürcher Staatsanwaltschaft derweil, wird gegen das Urteil beim Bundesgericht Beschwerde einreichen, wie sie am Dienstagabend mitteilte. Die Staatsanwaltschaft teile die Auffassung des Obergerichts, wonach in der Anklageschrift das rechtliche Gehör verletzt worden sei, nicht. Eine äusserst aufwändige Wiederholung des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens sei zudem nicht angebracht, liess die Oberstaatsanwaltschaft verlauten.

Zum Vorwurf, die Anklageschrift sei zu ausführlich gewesen, schrieb die Oberstaatsanwaltschaft, dass die Öffentlichkeit sich an der Verhandlung vor dem Bezirksgericht habe überzeugen können, dass alle Parteien die Anklageschrift verstanden und gezielt hinterfragt hätten. Entsprechend habe keine Partei ihren Rückweisungsantrag an das Obergericht mit der Ausführlichkeit der Anklage begründet.

Sodann sei der Übersetzungsanspruch des französischsprachigen Beschuldigten nicht verletzt worden. Dieser habe an der Verhandlung bestätigt, die Anklageschrift erhalten, verstanden und mit seiner Verteidigung besprochen zu haben

Bis zu vierjährige Freiheitsstrafen

Das Bezirksgericht Zürich hatte Vincenz und dessen Geschäftspartner unter anderem wegen Betrugs und mehrfacher Veruntreuung mit Freiheitsstrafen von drei Jahren und neun Monaten beziehungsweise vier Jahren bestraft. Drei weitere Beschuldigte wurden zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Eine weitere Person wurde freigesprochen, das Verfahren gegen eine weitere wurde eingestellt.

Die Staatsanwaltschaft warf dem ehemaligen Raiffeisen-Chef und seinem Kompagnon insbesondere vor, dass sie sich heimlich an Firmen beteiligt und danach dafür gesorgt hatten, dass diese Unternehmen unter anderem durch die Raiffeisen-Bank aufgekauft wurden. Dabei sollen die beiden Gewinne in Millionenhöhe eingestrichen haben, hiess es in der gemäss Obergericht zu langen Anklageschrift.

Der Berner Wirtschaftsrechtler Peter V. Kunz übte nach der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils gegen Pierin Vincenz harsche Kritik an der Zürcher Justiz. Schon das Bezirksgericht hätte die Anklageschrift zurückweisen müssen, sagte er am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Für die Justiz sei das ein «Trauerspiel» - und für die Beschuldigten erst recht. Das Leben der Beschuldigten sei praktisch auf «Hold» gestellt. Wegen der aufrecht erhaltenen Vermögenssperre stellten sich ihnen nicht zuletzt existenzielle Fragen.

(AWP)