cash.ch: Die US-Wirtschaft schwächelt, während der S&P 500 neue Höchststände erreicht. Haben sich die Märkte von den Fundamentaldaten abgekoppelt? 

Nadège Dufossé: Es mag überraschen, aber die US-Wirtschaft bleibt stark trotz Anzeichen einer Verlangsamung. Unsere Schätzung für dieses Jahr liegt bei einem BIP-Wachstum von 2,7 Prozent, und für das nächste Jahr erwarten wir etwa 2 Prozent. Diese Stabilität ist genau das, was die US-Notenbank Fed anstrebt, um die Inflation zu kontrollieren.

Wie erklären Sie sich diese Stärke?

Die robuste Beschäftigungslage und die Aufwärtskorrektur der Einkommens- und Sparquoten der privaten Haushalte bestätigen das Szenario einer sanften Landung, das durch die überraschende Zinssenkung der Fed um 50 Basispunkte gestützt wird. Der von der Atlanta Fed prognostizierte BIP-Indikator deutet derzeit auf ein BIP-Wachstum von über 3 Prozent im dritten Quartal 2024 hin.

Der S&P 500 ist nicht überbewertet, wollen Sie sagen…

Das Marktwachstum spiegelt sich in den Aktienrenditen wider. Bei einem erwarteten BIP-Wachstum von 2 Prozent kann man von einem hohen einstelligen oder niedrigen zweistelligen Wachstum bei den Gewinnen pro Aktie ausgehen. Die Gewinnspannen bleiben hoch, da die Arbeitskosten nicht stark steigen und die Inflation nachlässt. Dies alles unterstützt die positive Rendite des S&P 500.

Sie bleiben optimistisch?

Ja, basierend auf den Fundamentaldaten. Sollten die Kreditvergaben nachlassen und die US-Notenbank Fed ihre Geldpolitik weiter lockern, bleibt dies positiv für die Bewertungen. Auch wenn wir für das nächste Jahr keine Rendite von 20 Prozent erwarten, sind positive Renditen weiterhin realistisch.

Ist es derzeit eine gute Strategie, auf Wachstum als Anlagestil zu setzen?

Das hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Wenn das Wachstum stark abnimmt und die Fed eingreift, sollte man defensiver agieren. In diesem Fall könnten sowohl kurzfristige als auch langfristige Zinssätze sinken, was als «Bull Steepening» bezeichnet wird. Sollte die Wirtschaft hingegen um 2 Prozent wachsen und die Fed die Geldpolitik lockern, erleben wir möglicherweise ein «Bear Steepening», bei dem die kurzfristigen Zinssätze sinken, aber die langfristigen stabil bleiben oder leicht ansteigen. In der aktuellen Situation deutet der US-Markt auf ein solches «Bear Steepening» hin, was eher für eine zyklische Anlagestrategie spricht.

Nähern wir uns dem Ende des Konjunkturzyklus?

Zentralbanken agieren so präventiv, dass wir keinen normalen Zyklus erleben.

Ist das gut für die Märkte?

Der «Put» der Zentralbanken bietet den Märkten eine Untergrenze. Wenn sich die Wirtschaftstätigkeit stärker als erwartet verlangsamt, ist die Zentralbank bereit, die Wirtschaft zu stützen und die Märkte zu stabilisieren.

Wie setzt sich die Lage für Europa zusammen? 

Das Wachstum ist dieses Jahr hinter den Erwartungen zurückgeblieben, im Gegensatz zu den USA, wo der Arbeitsmarkt stabil und das Wachstum höher als erwartet ist. In Europa enttäuscht vor allem Deutschland. Während in den USA beide Wahlanwärter eine fiskalische Lockerung anstreben, gibt es in Europa geldpolitische Lockerung bei gleichzeitiger fiskalischer Straffung in einigen Ländern wie Frankreich. Das macht die Lage schwieriger.

Was sind die langfristigen Konsequenzen?

Eine grosse finanzpolitische Initiative ist sicherlich nicht zu erwarten - wie die wenig überzeugende Reaktion auf den Draghi-Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zeigt, in dem eine gemeinsame Schuldenaufnahme in der Region gefordert wird. Darüber hinaus hat der stetige Anstieg der massiven Defizite und der Verschuldung im Verhältnis zum BIP die Staatsverschuldung zu einem Thema in der Finanzpresse gemacht, und sie wird wieder zu einem politischen Thema, wie die Eröffnung von Defizitverfahren zeigt. Langfristig bedeutet dies, dass die Sparmassnahmen die Innovation und das Wachstum belasten dürften. 

Wie erklären Sie sich die doch positive Entwicklung des deutschen Leitindex DAX?

Der DAX wird stark von einzelnen Aktien wie SAP beeinflusst und spiegelt nicht den Zustand der deutschen Wirtschaft wider. Einige Aktien, besonders aus dem Verteidigungsbereich, haben gut performt. Insgesamt repräsentiert der Index jedoch nicht die wirtschaftliche Lage Deutschlands.

Was wird die Märkte in den kommenden Monaten stärker beeinflussen: Inflation oder Wachstum?

Ich denke, das Wachstum wird entscheidend sein. Die Inflation verlangsamt sich sowohl in den USA als auch in Europa, was die Anleger auf die wirtschaftliche Entwicklung fokussieren lässt. Nur eine extreme politische Änderung, etwa durch eine vollständige Umsetzung von Donald Trumps Plänen, könnte daran etwas ändern.

Wie stehen Sie zu den aktuellen geopolitischen Risiken?

Die US-Wahlen sind das grösste Risiko. Die Wahl von Harris hat andere Auswirkungen auf Handel und Verteidigung als eine Wahl von Trump. Aber jedes Szenario wird die geopolitische Lage erheblich beeinflussen. Diese Unsicherheit erhöht die Marktvolatilität, die in Wahljahren im Sommer und Herbst typischerweise ansteigt, besonders bei knappen Ergebnissen. 

Insbesondere die Spannungen im Nahen Osten sorgen für Unruhe. Was sind die Konsequenzen?

Die Spannungen im Nahen Osten und in der Ukraine tragen zur hohen Volatilität bei, was auch den Ölpreis beeinflusst. Während des US-Wahlkampfs versuchen die USA vermutlich, den Ölpreis stabil zu halten, um negative Auswirkungen zu vermeiden. Diese Unsicherheiten beeinflussen auch den Goldpreis, da Gold oft als sicherer Hafen und durch Käufe der Zentralbanken gestützt wird.

Die Stimmung an den Märkten ist derzeit neutral…

Ja, es ist kompliziert, eine klare Position zu beziehen.

Wegen der US-Wahlen?

Genau, die Märkte warten auf das Ergebnis. Danach werden die Investoren neue Positionen einnehmen.

Sowohl unter Trump als auch unter Harris wird die Staatsverschuldung steigen. Wie gross ist dieses Problem?

Am Ende kommt es darauf an, zu welchem Zinssatz Investoren bereit sind, den USA Geld zu leihen. 

Welche Anlagestrategien empfehlen Sie in diesem Marktumfeld? 

Wir bleiben angesichts der Fundamentaldaten konstruktiv gegenüber dem Aktienmarkt und haben in den USA und Schwellenländern eine Übergewichtung. In den USA investieren wir in Small und Mid Caps sowie in Finanzwerte Gleichzeitig setzen wir defensiv auf den Gesundheitssektor. In Europa bevorzugen wir defensive Positionen. Auf der Anleihenseite setzen wir auf lange Laufzeiten, um von der möglichen negativen Korrelation zwischen Aktien und Anleihen zu profitieren. Positive Wachstumsüberraschungen könnten Aktien steigen und Anleihen fallen lassen, während negative Überraschungen das Gegenteil bewirken könnten. Zusätzlich haben wir aufgrund der Unsicherheit bei den US-Wahlen kurzfristige Absicherungen erworben. Ein knappes Wahlergebnis könnte zu erhöhter Volatilität und kurzfristig negativen Marktreaktionen führen, daher schützen wir unser Portfolio gegen solche Risiken.

Gold hat mit den Märkten Höchststände erreicht: Inwiefern bietet das Edelmetall noch Schutz für das Portfolio?

Wir investieren langfristig in Gold. Obwohl der Goldpreis in diesem Jahr stark gestiegen ist, bleibt er sehr volatil und bietet keine signifikante Rendite. Daher sehen wir Gold eher als Mittel zur Diversifizierung und nicht als Absicherung. Der Markt wird stark von den Käufen der Zentralbanken beeinflusst, jedoch sind die Informationen darüber oft intransparent, was die Lage schwer vorhersehbar macht. Zum Beispiel führten reduzierte Käufe durch die chinesische Zentralbank zu Preisschwankungen. 

Was ist Ihrer Meinung nach der grösste Fehler, den ein Anleger machen kann?

Der grösste Fehler ist, alles auf eine Karte zu setzen. Diversifikation ist entscheidend; man sollte Überzeugungen haben, aber immer ein ausgewogenes Portfolio anstreben.

Was ist das Wichtigste, was Sie in Ihrer Karriere gelernt haben?

In den letzten Jahren gab es viele geopolitische Risiken und durch COVID haben wir ein neues makroökonomisches Umfeld. Überraschend ist, dass die Stimmung nicht sehr optimistisch ist, aber die Aktienmärkte, besonders in den USA, weiter steigen. Diese Resilienz der Märkte ist bemerkenswert. Vor zehn Jahren hätten solche Risiken grössere Auswirkungen gehabt. 

Was ist Ihre Erklärung dafür?

Nach vielen Schocks lernen die Märkte, sich auf Fundamentaldaten zu konzentrieren und weniger emotional zu reagieren. Sie sind reifer und erfahrener geworden. Zudem hat sich die Marktstruktur verändert: passive und quantitative Anlagen dämpfen emotionale Reaktionen.

Nadège Dufossé ist seit 2021 Global Head of Multi-Asset bei Candriam. Sie ist für die Festlegung der breit angelegten Asset-Allocation-Anlagestrategie bei Candriam und die Verwaltung von Multi-Asset-Fonds zuständig. Sie begann ihre Karriere 1997 als Aktienanalystin auf der Verkaufsseite von Exane BNP Paribas in Paris. Im Jahr 2007 wechselte Dufossé zu Candriam als Multi-Asset-Fondsmanagerin mit Sitz in Luxemburg. Im Jahr 2011 wurde sie Senior Asset Allocation Strategist und entwickelte das vermögensübergreifende Research und die Kommunikation. Im Jahr 2014 übernahm Dufossé die Position des Head of Asset Allocation bei Candriam. Dufossé hat einen Abschluss von der HEC Paris. Sie ist CFA-Charterholder und besitzt ausserdem ein Finanzanalysten-Diplom der französischen Gesellschaft für Finanzanalysten.

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