In Schanghai hat sich die wochenlange Covid-19-Abriegelung weiter verschärft: Arbeiter in Schutzanzügen schwärmten am Wochenende aus, um Stahlzäune um Gebäude mit positiven Fällen zu installieren. In Peking hat das gleiche Vorgehen gerade erst begonnen. Am Montag begannen die Behörden damit, einen pulsierenden Stadtteil der Hauptstadt abzusperren, um neue Ausbrüche einzudämmen.
Die Drohung, die beiden grössten und wohlhabendsten Städte Chinas mit einer Strategie lahmzulegen, die von den meisten Ländern aufgegeben wurde, trug dazu bei, dass der CSI 300 zum Wochenstart um 4,9 Prozent fiel und damit den stärksten Tagesverlust seit dem ersten Lockdown in Wuhan vor zwei Jahren erlitt.
Die immer häufigeren Sperren haben die Anleger in Sorge versetzt, dass Xi den Ruf der Kommunistischen Partei als pragmatischer Wirtschaftslenker opfert, um ein politisches Narrativ zu verteidigen, das ihn als den erfolgreichsten Virenbekämpfer der Welt darstellt.
Liquidität halten
Am heutigen Dienstag kündigte Chinas Notenbank an, eine gesunde und stabile Entwicklung der Finanzmärkte fördern und für ein gutes monetäres und finanzielles Umfeld sorgen zu wollen. Die People’s Bank of China werde "die Unterstützung der Realwirtschaft durch eine umsichtige Geldpolitik verstärken, insbesondere für Industrien und kleine Unternehmen, die von der Pandemie stark betroffen sind", teilte die Zentralbank in Peking mit.
Sie bekräftigte, die Liquidität solle auf einem angemessenen Niveau gehalten werden. Der CSI 300 legte angesichts der Nachricht zeitweise 1,5 Prozent zu, schloss dann jedoch 0,8 Prozent im Minus.
"Diese Covid-Situation versetzt China wirklich in eine sehr schwierige Lage, vielleicht die schwierigste in wirtschaftlicher Hinsicht in den letzten Jahrzehnten", sagte Junheng Li, Gründerin und Vorstandsvorsitzende von JL Warren Capital. "Es handelt sich um eine Vertrauenskrise in dem Sinne, dass die wohlhabendste Stadt Chinas durchgängig enttäuscht und verbittert ist über eine sehr unsensible Politik."
"Die Menschen wissen einfach nicht, was ein vernünftiger Weg sein könnte, um China aus dieser Covid-Situation herauszuführen", sagte Li.
Während sich Xi auf eine Umbildung der Führungsriege der Volksrepublik vorbereitet, die ihm eine beispiellose dritte Amtszeit sichern dürfte, wächst der Druck. Sein Ruf als entscheidungsfreudiger Politiker scheint dabei immer wichtiger zu werden, selbst wenn dies auf Kosten des Wirtschaftswachstums geht, das die Legitimität der Kommunistischen Partei seit der Öffnung Chinas gegenüber der Welt vor mehr als 40 Jahren gestützt hat.
«Zero Covid» steht nicht zur Debatte
Angesichts eines eingetrübten Ausblicks für die Wirtschaft der Volksrepublik hat Chinas scheidender Ministerpräsident Li Keqiang in den letzten Wochen einen "Sinn für Dringlichkeit" bei der Umsetzung von Konjunkturmassnahmen gefordert und bei einem Forum im vergangenen Monat dazu aufgerufen, "die Wahrheit zu sagen" und Vorschläge zu unterbreiten, statt Erreichtes zu preisen. Doch die Partei macht zunehmend klar, dass "Covid Zero" nicht zur Debatte steht, trotz des Auftretens des ansteckenden Omikron-Stammes.
Ma Xiaowei, Direktor der Nationalen Gesundheitskommission, schrieb Xi in einem Kommentar auf der Titelseite der Parteizeitung Study Times zu, dass er "den Ton" in Bezug auf die Anti-Epidemie-Politik des Landes vorgegeben habe, was es riskanter macht, die Strategie in Frage zu stellen. Ma rief dazu auf, "eine klare Haltung einzunehmen, um dem falschen Gedanken entgegenzutreten, man müsse mit dem Virus leben".
Für Xi war Chinas Fähigkeit, den ersten Ausbruch des Coronavirus in Wuhan unter Kontrolle zu bringen, eine machtvolle Antwort auf die Kritik aus den USA und anderen westlichen Demokratien, wo Debatten über Masken, Impfstoffe und Lockdowns für katastrophale Virusausbrüche verantwortlich gemacht wurden. China hat bisher weniger als 5'000 Todesfälle bestätigt, verglichen mit fast 1 Million in den USA, eine Tatsache, die täglich von Diplomaten und Leitartikeln der staatlichen Medien hervorgehoben wird.
China hat das Virus politisiert
"Auch wenn China sein Covid-Konzept gegenüber dem planlosen Umgang mit Covid in den Vereinigten Staaten gelobt hat, hat China das Virus nun auch politisiert", sagt Mary Gallagher, Professorin für Politikwissenschaften an der Universität von Michigan. "Das macht eine Änderung der Politik sehr schwierig, weil es einen früheren politischen Fehler unterstellen würde. Das will Xi vermeiden - gerade in dem Jahr, in dem er möglicherweise für eine noch nie dagewesene dritte Amtszeit als Präsident und Parteivorsitzender kandidiert."
Letzte Woche verteidigte Xi in einer Videoansprache auf dem Boao-Forum für Asien seinen Umgang mit dem Virus. "Damit die Menschheit den endgültigen Sieg gegen die Covid-19-Pandemie erringen kann, sind weitere harte Anstrengungen erforderlich", sagte er.
Mit einer solchen Rhetorik wurden immer extremere Massnahmen zur Kontrolle der Menschen in Schanghai gerechtfertigt, das am Sonntag 19'000 Fälle und 51 Todesfälle meldete. Mehr als einen Monat nach dem Ausbruch des Virus sind einige Bewohner von Gebäuden mit positiven Fällen durch grüne Maschendrahtzäune vor ihren Ausgängen eingepfercht worden, wie Fotos und Beiträge auf der chinesischen Social-Media-Plattform Weibo zeigen.
Grössere Sperrung in Peking?
In Pekings Chaoyang-Distrikt mit 3,5 Millionen Einwohnern gab es derweil eine Häufung von Fällen, die Befürchtungen aufkommen liessen, dass es in der Hauptstadt bald zu einer ersten grösseren Sperre kommen könnte.
Eine Änderung der Politik zum jetzigen Zeitpunkt würde einen enormen Gesichtsverlust für Xi bedeuten, so Richard McGregor, Autor des Buches "The Party: The Secret World of China’s Communist Rulers."
"Sie haben sich jahrelang damit gebrüstet, dass ihr System den westlichen Demokratien überlegen ist, aber plötzlich sieht es so aus, als ob es das doch nicht ist", sagte McGregor. "Wer wird es wagen, das Xi Jinping zu sagen?"
(Bloomberg)