Der Artilleriebeschuss beginnt kurz vor der Morgendämmerung. Ein Soldat tritt in einen verdunkelten Graben. Er zündet sich eine Zigarette an. Sorgsam umschliesst er die Flamme mit der freien Hand. In der Ferne ist ein Dröhnen zu hören, und ein Knistern.

Viktor, der ukrainische Infanterist, hebt den Kopf unter einem Tarnnetz. Er blickt in den heller werdenden Himmel, hier, im Osten seines Landes. Das Summen einer Drohne liegt in er Luft. Sie kommt von einem Ende des Schützengrabens und verweilt dann genau über ihm. Viktor schluckt. Das Summen zieht weiter. «Eine von uns», beruhigt sich der 37-Jährige und führt die Zigarette wieder an seine Lippen.

Mit aufgehender Sonne wird der Kriegslärm lauter. Für den Soldaten Viktor ist das längst Alltag. Seit Wochen hat er kaum geschlafen, auch weil russische Drohnen und Artillerie seine Position immer wieder unter Beschuss nehmen.

Tagsüber hält er Ausschau nach russischen Soldaten, die versuchen könnten, ein Minenfeld zu überqueren, das beide Seiten voneinander trennt. Abends nimmt er eine Schaufel in die Hand, um seinen Graben zu befestigen. «Sie feuern ständig, sie sondieren ständig», sagt Viktor, den nur seinen Vornamen preisgibt. Nur 800 Meter entfernt stehen russische Truppen. «Wir müssen irgendwie überleben», sagt Viktor. «Und wir müssen die Linie halten.»

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wogt der Krieg hin und her, es gibt zehntausende Tote - oder mehr? Und immer stärker prägt vor allem der Einsatz zahlloser Drohnen das neue Bild des Krieges auch für einfache Soldaten. Dabei ist es immer noch ein ungleicher Kampf, in dem das viel grössere und hochgerüstete Russland mutmasslich eine halbe Million Soldaten auf ukrainischem Boden stehen hat und die Armee aus unzähligen Fabriken in Russland und von Partnern wie Iran oder Nordkorea Raketen, Munition oder Drohnen bekommt.

Im dritten Jahr des Krieges geben führende Militärs der Ukraine offen zu, dass sich die Lage im Osten verschlechtert hat. Die gescheiterte Gegenoffensive 2023 liess die Moral sinken. Vor allem die USA als wichtigster Verbündeter hatten die Lieferung von wichtigem Material monatelang verschleppt. Und angesichts der Möglichkeit, dass Donald Trump, der die US-Militärhilfe für die Ukraine in Frage stellte, schon bald ins Präsidentenamt zurückkehrt, blicken viele mit Sorge nach vorn.

Im östlichen Abschnitt der rund 1000 Kilometer langen ukrainischen Frontlinie wirken fast alle Soldaten der Infanterie-, Artillerie- und Drohneneinheiten erschöpft. Sie sprechen von akutem Munitionsmangel und der dringenden Notwendigkeit, die Truppen aufzufüllen. Ein neuer Vorstoss Russlands in der Nähe von Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine, wird wahrscheinlich weitere wertvolle Munition und Personal von anderen Abschnitten der Front abziehen und Kiews Militär in einem kritischen Moment des Krieges zusetzen.

Er kam an die Front, ohne einen einzigen Übungsschuss abgefeuert zu haben

Viktor erhielt seinen Mobilisierungsbescheid vier Monate nach Kriegsbeginn. Seine Frau hatte gerade eine kleine Tochter zur Welt gebracht. Sie lebten mit seinen Eltern in deren Haus auf einem kleinen Hügel mit Blick auf Wälder und Felder, deren Farbe sich im Laufe der Jahreszeiten änderte.

Viktor kam zunächst in die nördlichen Ukraine an der Grenze zu Russland. Später wurde er nach Bachmut im Osten versetzt, wo Söldner der russischen Wagner-Gruppe um die Einnahme der Stadt kämpften. Im Herbst 2023 bekam Viktor ein Maschinengewehr vom Typ Browning. Ihm wurde gezeigt, wie man die Waffe reinigt und pflegt. Eine Woche später wurde er an die Front versetzt - ohne, wie er sagt, auch nur einen einzigen Übungsschuss abgefeuert zu haben.

Als er in Donezk ankam, säumten noch dichte Eichen- und Birkenwälder die grasbewachsenen Felder, sagt er. Vögel sassen in den Bäumen. Im Winter dann fielen die Temperaturen auf bis zu minus 26 Grad. An wärmeren Tagen staute sich in den Gräben Wasser und vermischte sich mit Erde zu matschigem Schlamm, der alles durchnässte. Die ganze Zeit über flogen russische Drohnen und warfen Sprengsätze ab. Bäume und Felder wurden zu Asche. Jetzt steht nur noch ein Gewirr verkohlter Stümpfe.

Anfang 2024 wagten Russlands Streitkräfte den Versuch eines Durchbruchs, sagt Viktor. Sie fuhren ihren Mannschaftswagen zu einer nur wenige Meter von ihm entfernten Position. Er feuerte mit seinem Maschinengewehr auf das Fahrzeug. Es fuhr auf ein Minenfeld, rollte über einen Sprengsatz und explodierte.

Mehrere russische Soldaten starben in dem Wagen, sagen Viktor und sein Kommandeur. Andere wurden schwer verletzt und versuchten, durch das Minenfeld zurück zu ihren Stellungen zu kriechen. Einer, ein ehemaliger Sträfling aus der russischen Region Burjatien, wurde gefangen genommen, erzählt Viktor. Unmittelbar danach seien die Angriffe auf seine Stellung verstärkt worden.

«Natürlich waren die Russen wütend», sagt er. «Sie hatten Ausrüstung und Leute verloren, und so begannen sie natürlich zu schiessen mit allem, was sie hatten.» Dann könne man nur noch beten. sagt Viktor, der um seinen Hals silberne Anhänger mit der Jungfrau Maria und dem Kruzifix trägt.

Nach dem gescheiterten Angriff warfen russische Einheiten Viktor zufolge Behälter über seiner Stellung ab. Schnell habe sich der Graben mit einem farb- und geruchlosem Gas gefüllt, während er und sein Kamerad im Dunkeln nach Gasmasken tasteten. Hustend sei er in ein Loch am Rand des Grabens gekrochen, gerade gross genug, um sich hineinzukauern. Er habe dann sein Smartphone herausgeholt und sich Fotos seiner kleinen Tochter angeschaut.

Die Erschöpfung der Ukrainer kommt auch daher, dass Russlands Präsidenten Wladimir Putin den Verlust von Menschen und Material hinzunehmen scheint. In Dezember hiess es beim US-Geheimdienst, in dem Krieg seien 315'000 russische Soldaten getötet oder verletzt worden. Kanzler Olaf Scholz sprach davon, dass es allein zuletzt allein in einem Monat 24'000 gewesen sein sollen.

Solche Zahlen sind gerade in Kriegszeiten zumeist dazu gedacht, die eine Seite stark und die andere schwach aussehen zu lassen. Wie es tatsächlich ist, auch auf ukrainischer Seite, wird öffentlich nicht gesagt.

Prekäre Lage

Auch Viktor macht sich keine Illusionen. «Es ist nicht so, wie es auf einer Landkarte aussieht, mit all diesen hübschen Linien und Pfeilen», sagt er. «Ich sehe meine Freunde, was mit ihnen geschehen ist, was wir bekämpfen. Es ist die Hölle. Es ist schlimmer als die Hölle.» Im Februar hätten die ständigen Angriffe dazu geführt, dass er körperlich erstarrte.

«Ich konnte mich nicht beruhigen», sagt Viktor. «Nicht, dass ich nicht gehen wollte. Aber ich konnte nicht.» Er sei wie gelähmt gewesen vor Angst. Was, wenn er seine Arbeit nicht richtig mache, wenn etwas mit seiner Waffe schief ging, wenn er seine Kameraden, seine «Brüder», die seine zweite Familie seien, im Stich liesse?

Er habe darüber mit seinem Kompaniechef gesprochen und dieser habe ihn trotz der prekären Lage ein paar Tage Zeit für ein Gespräch mit einem Psychologen gegeben. Das habe geholfen. Doch eigentlich hätte längst ein «frischer» Soldat für ihn hier sein sollen. «Aber niemand will mit uns tauschen», sagt Viktor«. »Wer will schon hierher kommen?« Der Tod lauere überall.

Dutzende Kilometer entfernt starrt Roman auf Bildschirme seiner Computer, eine Zigarette mit Kirschgeschmack im Mundwinkel. Der 38-Jährige ist Kommandeur eines Unterstützungs-Zuges, derzeit in einem zerstörten Dorf im südlichen Sektor der Region Donezk. Ein Bildschirm zeigt Wärmebilder von Baumreihen an der Front. Sie kommen von Aufklärungsdrohnen.

»Es sieht aus wie ein verdammtes Videospiel«, sagt Roman und schaltet zwischen verschiedenen Fenstern hin und her. Wie Tausende andere Ukrainer meldete sich er sich 2022 freiwillig, wie er sagt. Damals habe er in Marseille gelebt. Er wuchs in einem Dorf bei Kiew bei seiner alleinerziehenden Mutter auf und verliess die Ukraine auf der Suche nach einem besseren Leben. In Marseille lernte er seine französische Frau kennen, eröffnete mit Freunden eine kleine Pizzeria und ging im Ozean schwimmen.

»Ich habe wirklich meinen Traum gelebt, es war alles, was ich wollte«, sagt Roman. Er lehnt sich in einem Ledersessel zurück und krault Marcel am Ohr - einen Mischlingshund, den er in dem zerstörten Dorf gefunden hat. Als der Krieg ausbrach, flehten ihn seine Frau und seine Mutter an, nicht in die Ukraine zurückzukehren. Aber Roman sagt, dann er hätte sich selbst nicht mehr im Spiegel anschauen können. Nun ist er für 32 Soldaten der 58. motorisierten Brigade verantwortlich.

Drohnen haben den Krieg verändert

Etwas näher an der Front sind drei Soldaten aus Romans Einheit. Sie sitzen in einem Unterstand und warten auf Befehle. Denys, ein Drohnenpilot und mit 21 Jahren der Jüngste im Zug, sitzt in einer Ecke und raucht. Ein Älterer neckt ihn, er sei zu grün und zu dumm. »Er ist senil, hör nicht auf ihn«, sagt Denys. Er deutet auf den Älteren, der in den 30ern ist. »Sie suchen so dringend nach Kämpfern, dass sie sie aus Altersheimen rekrutieren.« Die beiden Soldaten scherzen weiter.

Serhii, ihr Sprengstoffexperte, hört lächelnd zu. Im Gegensatz zu einigen anderen müssen Einheiten wie ihre näher an den russischen Stellungen heran, weil ihre Drohnen weniger Reichweite haben. Tag und Nacht verstecken sie sich und warten auf den Befehl zum Angriff.

Roman gibt ihnen jetzt grünes Licht. Die Männer beginnen sofort mit der Arbeit. Sie präparieren eine Quadcopter-Drohne vom Typ Mavic, die Sprengsätze abwerfen kann. Denys balanciert die Drohnensteuerung auf einem Bein, Serhii bringt einen frisch geladenen Akku an der Mavic an.

Wenig später ist liefert die Drohnenkamera Bilder: Ein russischer Soldat, dessen Mund noch feucht mutmasslich vom Zähneputzen ist, blinzelt. Er versucht offenbar, das leise Surren in seiner Umgebung einzuordnen. Er dreht sich um, will etwas zu seinem Kameraden sagen - dann entdeckt er die Mavic über sich. Schnell taucht er ab in ein Loch unter Bäumen, gerade als Denys den Sprengsatz abwirft.

»Verdammt gut! Guter Junge!«, jubelt Roman. Er sieht auf seinem Monitor eine Staub- und Rauchwolke, die aus dem Loch aufsteigt. Denys will, dass Roman das Lob wiederholt. »Ich habe dir gesagt, dass du grossartig bist«, gibt der zurück. »Brauchst du noch mehr?«

Roman sagt, man wolle den russischen Soldaten Angst machen. »Wir wollen, dass sie in ihren Löchern sitzen und nicht einmal den Kopf hochnehmen. Wenn du jedes Mal, wenn du eine Bewegung siehst, etwas auf sie wirfst, eine Drohne fliegst, sie mit Artillerie beschiesst oder mit einem Maschinengewehr, werden sie sogar Angst haben, auf die Toilette zu gehen.«

Wie andere Ukrainer kam auch einer von Romans besten Freunden aus Kindertagen schon vor zwei Jahren bei Kämpfen ums Leben. Danach liess sich Roman die Worte »Hass« und »Rache« über seine Knöchel tätowieren. Damit wolle er sich an die Gefühle erinnern, die ihn zum Kämpfen bewegen. Romans Telefon klingelt. Er hebt ab und schaltet auf Französisch um. Seine Frau ruft an, aus Marseille. Sie fragt, wie es so geht, auch bei Marcel.

Solche Drohnen, deren Bau und Einsatz oft nur wenige hundert Dollar kostet, haben den Krieg verändert. Sie machen es den Soldaten bei Stellungskämpfen fast unmöglich, sich auf dem Schlachtfeld zu bewegen, ohne entdeckt zu werden. Ärzte und andere Mediziner im Donbass sagen, dass mittlerweile die meisten der von ihnen behandelten Verletzungen auf dem Schlachtfeld von solchen Drohnen stammen.

Viele der motiviertesten und erfahrendsten Soldaten wurden mittlerweile getötet

Wie viele Drohnen Russland jeden Monat herstellen kann, ist unklar. Die Ukraine selbst plant in diesem Jahr den Bau von einer Million. Aber Soldaten und Kommandeure in Drohneneinheiten sagen, dass sie diese Zahl verdoppeln oder verdreifachen müssten, wenn sie mit den russischen Truppen mithalten wollen.

Um Romans Brigade schneller mit Drohnen zu versorgen, sitzen deshalb ehemalige Juweliere und Mechaniker in einem Dorfhaus nahe der Frontlinie und löten Teile zusammen, damit die Drohnen sofort eingesetzt werden können. Die Brigade sammelt auch abgeschossene russische Drohnen ein, die dann von Ingenieuren auseinandergenommen und untersucht werden.

Viktor und Roman sagen, es sei am härtesten, der Front nicht entkommen zu können. Pause sei kaum möglich, weil Ersatz fehle. Viele der motiviertesten und erfahrendsten Soldaten wurden mittlerweile getötet. Es reiche deshalb nicht aus, einfach mehr Leute einzuberufen, sagt Roman. Sie müssten richtig vorbereitet und ausgebildet werden. Das dauere. »Aber man kann nicht ständig dieselben Leute an der Front haben.« Er selbst habe aber nicht wirklich eine Wahl. Russland habe sein Land überfallen. Es gehe um eine Frage von Leben oder Tod für sein Volk und sein Land.

Was nach dem Tod komme, sagt Viktor, wisse er nicht. Für die russischen Soldaten werde es aber keine Erlösung geben. »Ich glaube, sie schmoren in der Hölle.« Plötzlich blitzen seine Augen auf, das Pfeifen von Artillerie lässt ihn in Deckung gehen. »In das Loch!«, schreit er. Ein weiteres Pfeifen, diesmal näher, dann das Geräusch eines Aufpralls von Metall, das auf Erde trifft. Die Wände des Schützengrabens vibrieren.

Dann ist es still. Kurz darauf knarzt im Funk die erschöpfte Stimme eines ukrainischen Soldaten, der um Hilfe bittet. Seine Stellung, einige hundert Meter von Viktors Graben entfernt, wurde getroffen. »Ein 200er, drei 300er«, funkt der Soldat und benutzt den militärischen Code: ein Toter, drei Verwundete.

Position halten und nicht versuchen, das Minenfeld zu überqueren

»Wie lauten meine Anweisungen?« fragt der Soldat. Position halten und nicht versuchen, das Minenfeld zu überqueren, ist die Antwort. »Plus Plus«, seufzt er und nimmt den Befehl damit an. Ein paar Minuten später ist er wieder am Funk. »Wie lauten meine Anweisungen?«, fragt der Soldat, hörbar keuchend.

»Er hat eine Gehirnerschütterung«, sagt Viktor. Der Soldat wirke verwirrt und spreche undeutlich. »Sie werden es nicht schaffen, sie vor Einbruch der Dunkelheit zu retten«, sagt Viktor. Er nimmt seinen Helm ab und lässt sich gegen die weissen Sandsäcke an den Wänden seines Schützengrabens sinken.

Die Stimme über Funk weist den Verletzten an, Wasser zu trinken und wach zu bleiben. Er und seine Kameraden müssten bis Einbruch der Dunkelheit warten, bis ein Sanitätsteam sie abhole, heisst es - das sind noch mehr als acht Stunden. »Verlassen Sie Ihren Posten nicht!«, knarzt es aus dem Funkgerät. Aus Richtung der Position der verletzten Männer sind weitere Explosionen zu hören. Russische Drohnen werfen erneut Sprengsätze ab.

Viktor zieht wieder an seiner Zigarette. Er habe aufgehört zu zählen, wie viele Soldaten er verletzt oder getötet habe. Es habe einen fröhlichen Kameraden in den 20ern gegeben, mit dem er im Herbst einen Schützengraben teilte, sagt er aber. Der sei bei einem Angriff getötet worden, als Viktor für ein paar Tage weg war. Wie der fröhliche Soldat geheissen habe? Viktor zögert und kneift die Augen zusammen. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagt er nach einer Pause. »Ich weiss nicht einmal mehr, woher er kam."

(Reuters)