So langsam steigt das EM-Fieber: Am Donnerstag stellt Bundestrainer Julian Nagelsmann seinen Kader für die Fussball-Europameisterschaft vor, in weniger als vier Wochen beginnt dann das Turnier.

Nicht nur Fans hoffen auf ein neues Sommermärchen wie zur WM 2006, sondern auch die deutsche Wirtschaft. Millionen Fans aus dem In- und Ausland, tolle Stimmung sowie eine erfolgreiche Nationalmannschaft könnten die Zutaten für einen guten Konjunktursommer sein.

Europas grösste Volkswirtschaft kann derzeit jede Unterstützung gebrauchen, wird sie doch nach der Prognose von internationalen Organisationen wie IWF und OECD in diesem Jahr erneut so schlecht abschneiden wie kein anderes grosses Industrieland. Nur etwa 0,3 Prozent Wachstum werden ihr zugetraut. Nachfolgend ein Überblick, wie die Wirtschaft von der EM profitieren könnte:

Schub für den Tourismus

2,7 Millionen Tickets stehen für das vierwöchige Grossereignis vom 14. Juni bis 14. Juli zur Verfügung. Die Austragungsorte Berlin, München, Köln, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Gelsenkirchen, Hamburg, Leipzig und Stuttgart können mit einem Ansturm in- und ausländischer Gäste rechnen.

Auch wegen der EM hofft die Tourismus-Branche nach den schwierigen Corona-Jahren auf einen Rekord in diesem Jahr: «Die Menschen sind aktiver, was das Reisen betrifft, fahren etwa zu Grossereignissen und Konzerten internationaler Stars», sagt der Geschäftsführer des Deutschen Tourismusverbandes (DTV), Norbert Kunz. «Es könnte also gut sein, dass 2024 ein neues Rekordjahr für den Deutschland-Tourismus wird – auch dank der vielen begeisterten Fussballfans, die dieses Event live erleben wollen.»

Zurückhaltendes Gastgewerbe

Die Vorfreude bei den Hoteliers und Gastronomen hält sich derzeit noch in Grenzen. Nur 15,5 Prozent aller gastgewerblichen Betriebe rechnen mit positiven Impulsen durch die EM, zeigt eine Umfrage des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga). 67,1 Prozent erwarten keine Auswirkungen, während 17,4 Prozent noch keine Prognose wagen.

Jeweils rund drei Viertel der Befragten gehen nicht von mehr Gästen oder Umsatzzuwächsen aus. «Ein Grossereignis wie die EM kann zum Teil auch Stammgeschäft verdrängen», erklärte Dehoga-Präsident Guido Zöllick die Zurückhaltung. So würden weniger oder kürzere Kongresse stattfinden, auch kämen weniger Geschäftsreisende.

Erwartungsgemäss zuversichtlicher als die Gesamtbranche zeigen sich die Hotels und Gastrobetriebe in den zehn Spielorten. Hier erhofft sich fast jeder zweite Unternehmer positive Impulse durch die EM, 39,0 Prozent erwarten einen Umsatzschub.

Bier in Strömen

Fussball und Bier - das gehört für viele Fans zusammen. Die Brauereien hoffen deshalb auf ein Zusatzgeschäft durch die EM. «Grosse Fussball-Events in der Vergangenheit haben gezeigt, dass während der Turnierdauer mehr Bier getrunken wird als sonst in Sommerwochen üblich», sagt der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Brauer-Bundes, Holger Eichele.

Im WM-Jahr 2006 - als Deutschland ebenfalls Gastgeber war - seien vor und während des Turniers rund fünf Prozent mehr Bier verkauft worden, bei den Folgeveranstaltungen rund vier Prozent. «Aber ein Sommermärchen wird es nur werden, wenn das Wetter mitspielt und unsere Nationalmannschaft erfolgreich ist.» Die Brauereien können das gut gebrauchen, denn 2023 war ein rabenschwarzes Jahr für die Branche: Der Bierabsatz in Deutschland fiel um 4,5 Prozent auf 8,4 Milliarden Liter, womit sich der langfristige Trend sinkender Absatzzahlen fortsetzte.

Kommt es zu einem Konsumboom durch die EM?

Eher nicht, sagen Experten. «Die Erfahrung der Fussball-WM im Jahr 2006 zeigt: Sportliche Grossereignisse sind kein Konjunkturfeuerwerk», betont der Konjunkturchef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln), Michael Grömling. Viele Verbraucher dürften die EM zwar zum Anlass nehmen, um sich einen neuen Fernseher zu kaufen, zum Public Viewing einzuladen oder beim Mitfiebern ein Bier mehr zu trinken. «Doch dafür sparen sie an anderer Stelle: Bratwurst statt Restaurant, Fernsehabend statt Kinobesuch», sagte Grömling. «Die Konsumausgaben steigen folglich nicht unbedingt, sondern verschieben sich.»

Die Commerzbank-Ökonomen erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal - in das die erste Turnierhälfte fällt - «eher stagnieren» wird, nachdem es von Januar bis März zu einem Wachstum von 0,2 Prozent reichte.

Was erwartet der Einzelhandel?

Er erhofft sich frische Umsatzimpulse durch die grösseren Besucherströme. «Das kann dem hiesigen Konsum positiven Schub verleihen», sagt ein Sprecher des Branchenverbandes HDE.

Von grosser Bedeutung bleibe aber, dass die eigene Mannschaft im Turnier möglichst weit komme. «Nur wenn die deutsche Nationalmannschaft im Turnier die erste Phase übersteht, kann womöglich auch die Konsumstimmung profitieren», so der HDE-Sprecher. Traditionell mache der Lebensmittelhandel zu grösseren Sportereignissen gute Geschäfte, denn viele deckten sich für das gemeinsame Fussball-Schauen mit Getränken und Verpflegung ein.

Welche Firmen sind die grössten Gewinner?

Einige Unternehmen rechnen mit einem Sondereffekt. Das Buchungsportal AirBnB etwa geht von zusätzlichem Rückenwind für die Vermietung von Ferienwohnungen durch die EM aus. Der Werbeflächenvermarkter Ströer erwartet ebenfalls frische Impulse durch das Turnier.

Das gilt auch für den Sportartikelhersteller Adidas. Von den neuen EM-Trikots der deutschen Nationalmannschaft verkaufe sich das in Pink- und Lila-Tönen gehaltene ebenso gut wie das klassische weisse, sagt Konzernchef Björn Gulden. Weltmarktführer Nike hat bei der EM neun Teams unter Vertrag, Adidas sechs, Puma vier.

Wird die Wirtschaft insgesamt angekurbelt?

Für die zehn Städte, in denen die Spiele stattfinden, könnte das Grossereignis durchaus einen kleinen wirtschaftlichen Impuls bringen, erwartet das IW. Doch deswegen werde das Bruttoinlandsprodukt am Ende des Jahres nicht höher ausfallen.

Zwar fliesse in einige Stadien Geld in Form von Modernisierungsarbeiten. «Allerdings entstehen dabei keine neuen Strassen oder sonstige Infrastruktur, wie es etwa bei der WM in Südafrika der Fall war», sagt IW-Konjunkturexperte Grömling. Einnahmen aus dem Verkauf von TV-Rechten gingen zudem an den Fussballverband UEFA, der seinen Sitz in der Schweiz hat.

Was ist mit dem Image Deutschlands?

Psychologische Effekte sollten nicht unterschätzt werden - vor allem, wenn sich Bundestrainer Julian Nagelsmann und seine Truppe um Kapitän Ilkay Gündogan gut schlagen und die Fans begeistern. «Ein sportliches Grossereignis kann die Stimmung aufhellen und das Image des Gastgeberlandes verbessern», sagt IW-Experte Grömling.

Eine aus sportlicher und organisatorischer Sicht erfolgreiche EM mache den Standort attraktiver. «Imagepflege ist, gerade vor dem Hintergrund schwacher Direktinvestitionen, ein enormer Gewinn», sagt der Konjunkturchef. «Gleichzeitig ist Konjunktur geprägt von Erwartungen und Stimmungen – die emotionale Rendite der EM ist nicht zu unterschätzen.»

Das sieht auch der Hotel- und Gaststättenverband so. «Auch wenn nicht alle Gastgeber unmittelbar von einem sportlichen Megaereignis dieser Art profitieren, sind die möglichen positiven Effekte für eine Stimmungsaufhellung im Land und für die Stärkung des Tourismusstandortes Deutschland nicht zu unterschätzen», sagt Dehoga-Präsident Zöllick. Bei der Weltmeisterschaft 2006 hätten Deutschlands Gastgeber bewiesen, dass sie bestens aufgestellt seien. Zöllick hofft, dass auch die Heim-EM 2024 viele Gäste zum Wiederholungsbesuch motiviert.

(Reuters)