Dabei geht es nicht nur darum, Nicht-Bleibeberechtigte in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. Auch in der Zusammenarbeit mit europäischen Partnerländern gibt es Probleme in grossem Massstab. Denn eigentlich sehen die Dublin-Regeln für den passfreien Schengenraum vor, dass Geflüchtete ihren Schutzantrag in dem ersten Land stellen müssen, das sie im Schengenraum betreten - und dieses Land dann auch verantwortlich für die Person ist. Auch der mutmassliche syrische Attentäter, der drei Menschen mit einem Messer beim Solinger Stadtfest tötete und weitere verletzte, hätte schon im vergangenen Jahr in das EU-Land Bulgarien abgeschoben werden sollen, über das er eingereist war.
Doch nun wird deutlicher, dass dies in der Praxis sehr oft nicht funktioniert - es geht um zehntausende Fälle. Kanzler Olaf Scholz betont, dass dies mittlerweile ein Dauerthema für ihn und Innenministerin Nancy Faeser in den Gesprächen mit EU-Partnern sei.
Die Zahlen
Laut Bundesinnenministerium gab es im vergangenen Jahr 74.622 Fälle, in denen Deutschland Migranten in andere europäische Mitgliedstaaten abschieben wollte. Davon wurden 22.462 von den jeweiligen EU-Ländern abgelehnt. Im Umkehrschluss stimmten die Staaten aber in 55.728 Fällen zu, Geflüchtete und Migranten zurückzunehmen. Dennoch gab es 2023 insgesamt nur 5053 Überstellungen in andere Mitgliedstaaten. 2022 waren es 68.709 Rücknahmeersuchen und 4158 Überstellungen gewesen.
Im ersten Halbjahr 2024 hat sich die Situation nicht grundlegend geändert: In diesem Zeitraum gab es 36.795 Übernahmeersuchen von Deutschland an andere EU-Mitgliedstaaten, 12.808 wurden abgelehnt, 21.314 akzeptiert. Nur 3043 Menschen wurden in andere EU- und Schengen-Mitgliedstaaten überstellt.
Welche Nationalitäten sind betroffen?
Die Übernahmeersuche in andere Schengen-Staaten betrafen 2023 fast zur Hälfte Afghanen (16.968) und Syrer (15.627). Danach folgen Fälle mit Personen aus der Türkei, Russland, Iran, Irak und den Maghreb-Staaten. Die meisten Übernahmegesuche richteten deutsche Behörden dem Innenministerium zufolge an Kroatien (16.704) und Italien (15.479). An Bulgarien wurden immerhin 7732 Übernahmegesuche gestellt.
Nach Angaben der Bundesregierung scheiterte eine fristgerechte Überstellung 2023 bei 38.682 Personen - die mit Abstand meisten Fälle betrafen dabei Afghanen (8965) und Syrer (8120). Meist erhalten die Betroffenen dann einen sogenannten subsidiären Schutzstatus und dürfen vorerst bleiben.
Gründe für das Scheitern 1 - die Regeln
Nach den geltenden Dublin-III-Vorschriften gilt eine Frist von sechs Monaten, in denen ein Land eine Rücküberstellung von Flüchtlingen in einen anderen europäischen Staat beantragen muss - sonst ist das Land, in dem sich ein Geflüchteter aufhält, selbst verantwortlich. Diese Überstellungsfrist kann nur auf 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person offiziell als untergetaucht registriert ist. Wegen der Vielzahl der Fälle, mangelnder Digitalisierung der Ausländerbehörden und Personalmangel wird die Sechs-Monatsfrist in Deutschland aber oft gerissen, weshalb die Bundesrepublik zuständig wird. Über die Jahre addiert sich die Zahl auf mehrere hunderttausend Menschen.
Gründe für das Scheitern 2 - die Praxis
Als Gründe für das Scheitern der Rückführungen nennt die Regierung in ihrer Statistik unter anderem die fehlende Kooperation der europäischen Mitgliedstaaten, Probleme bei der Ausländerbehörde selbst, das Untertauchen der Personen, Verwaltungsgerichtsverfahren, aber auch das sogenannte Kirchenasyl. In 1334 Fällen habe es zudem keine Flugverbindung gegeben. In 614 Fällen seien die betroffenen Personen aber auch freiwillig in ihr Heimatland ausgereist.
Die Statistik verdeckt, dass ein erheblicher Teil der Verantwortung bei den deutschen Behörden liegt: So wurde im Fall des mutmasslichen Solinger Attentäters der Prozess der Abschiebung nach Bulgarien zwar gestartet, aber offenbar nicht konsequent weiterverfolgt. Mit dem neu beschlossenen Asylrechts-Paket der EU wird die Sechs-Monate-Frist abgeschafft und das Antragsverfahren für die Rücknahme erheblich vereinfacht.
Dazu kommen Probleme bei der Durchführung der Abschiebungen, die nicht nur die in andere Schengen-Staaten betreffen: Im ersten Halbjahr 2024 zeigt die Statistik des Innenministeriums beispielsweise, dass insgesamt 132 Abschiebungen (davon 59 Dublin-Überstellungen) wegen des Widerstands der Betroffenen abgebrochen werden mussten. In 142 Fällen (davon 29 Dublin-Fälle) weigerten sich die Piloten, die Betroffenen an Bord zu nehmen. Aus medizinischen Gründen wurden 36 (davon 16 Dublin-Fälle) Abschiebungen abgebrochen.
Problemfälle Italien, Griechenland und Bulgarien
Italien weigert sich seit Dezember 2022, Personen nach dem Dublin-Verfahren zurückzunehmen. Als Grund gibt die rechtskonservative Regierung in Rom an, dass aufgrund hoher Zugangszahlen von Flüchtlingen über das Mittelmeer keine ausreichenden Kapazitäten in den Aufnahmeeinrichtungen vorhanden seien. Deutschland stellt dennoch weiter - aber erfolglos - Anträge auf Rücknahme. Eine Ausnahme macht die italienische Regierung bei unbegleiteten Minderjährigen.
Im Falle des EU-Partners Griechenland gibt es seit Jahren Kritik an der Versorgung von Flüchtlingen, auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Deutschland nahm Rückweisungen erst 2017 wieder auf - will aber Zusicherungen, dass die betroffenen Personen menschenrechtskonform untergebracht werden. Ein Problem: Griechenland sieht Sozialhilfe nur für Personen vor, die sich bereits mehrere Jahre legal in Griechenland aufgehalten haben. Die griechische Regierung hat dies trotz entsprechender Zusagen nie geändert. In Deutschland sind Zehntausende Menschen betroffen. Eine Rückführung gelingt nur in Einzelfällen, wofür auch etliche Gerichtsurteile sorgen. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht etwa entschied am 19. April 2021, dass nicht einmal in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte wieder nach Griechenland zurückgeführt werden dürfen.
In Bulgarien sehen Flüchtlingsorganisationen ebenfalls erhebliche Menschenrechtsprobleme, auch durch Übergriffe auf Migranten. Dies könnte erklären, wieso Betroffene manchmal eine Beratung erhalten, wie sie sich einer Rücküberstellung entziehen können.
Rückkehr und Abschiebungen nach Deutschland
Nach Angaben der Bundesregierung hielten sich im vergangenen Jahr 14.885 Personen in Deutschland auf, die bereits einmal in einen anderen europäischen Staat zurückgeführt wurden - dann aber erneut nach Deutschland einreisten. Davon seien 5100 Personen ausreisepflichtig gewesen. Die grösste Gruppe stellen Russen, dann folgen Afghanen und Iraker.
Es ist zudem keinesfalls so, dass nur Deutschland Geflüchtete in andere Schengen-Staaten zurückschicken will: 2023 gab es auch 15.568 Anfragen von anderen Staaten an die Bundesrepublik, Personen zurückzunehmen - weil die Personen von Deutschland aus einreisten. An erster Stelle lag Frankreich (5209 Fälle), dann folgen die Niederlande (2762), Belgien (2384) und Österreich (1067). Die deutschen Behörden akzeptierten dies nicht immer. Eine Zustimmung gab es in 9954 Fällen, überstellt wurden nach Deutschland tatsächlich 4275 Personen. Übrigens stellte auch Griechenland 357 Anträge - 167 Personen wurden dann tatsächlich nach Deutschland überstellt.
(Reuters)
1 Kommentar
Das Problem liegt nicht darin, dass "Flüchtlinge" nicht in ein anderes EU-Land abgeschoben werden können, sondern vielmehr darin, dass wir erstens nicht in der Lage sind, unsere Aussengrenzen effektiv zu schützen, und zweitens nicht fähig sind, Menschen, die sich nicht an unsere Regeln halten, in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. Besonders versagt hierbei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Ein weiteres Problem ist, dass diesen Menschen ein Recht auf eine üppige Rundumversorgung zugesprochen wird, gleichzeitig aber vom ersten Tag an keine Bedingungen an sie gestellt werden dürfen.
Ein Teil-Kern dieses Problems liegt insbesondere und in der tendenziell linken Politik, die sich hartnäckig weigert anzuerkennen, dass dringender Handlungsbedarf besteht, der weder durch Geld noch durch blosse Worte gelöst werden kann. Es geht darum, dass das Wohl der Allgemeinheit über dem individuellen Interesse stehen muss – eine Tatsache, die oft ignoriert wird.