cash.ch: Frau Rosenberg, welcher Konfliktherd bereitet Ihnen mehr Sorge: Ukraine, Naher Osten oder Taiwan?

Anna Rosenberg: Aktuell der Nahe Osten.

Ist das aufgrund des Potenzials, dass verschiedene Akteure in den Konflikt involviert werden?

Sie sind alle bereits involviert. Iran, Israel und die Hisbollah sagen unabhängig voneinander, dass sie keinen vollen Krieg wollen, aber sie provozieren sich natürlich ständig gegenseitig mit immer gefährlicheren Aktionen. Dabei werden immer wieder rote Linien überschritten. Einer handelt, der andere reagiert. Die Reaktion muss immer dramatischer sein als zuvor, um weitere Reaktionen zu verhindern. Die Frage ist jedoch, ob es irgendwann zu einer Reaktion kommt, von der es kein Zurück mehr gibt, weil sie einfach zu gross ist und zu viel zivilen Kollateralschaden verursacht. Das ist das grosse Risiko. Im Moment glaube ich nicht, dass es zu einem grossen Krieg kommt, in dem der Iran, die USA, Israel und die Hisbollah direkt aufeinandertreffen. Aber natürlich nimmt das Risiko einer Fehlkalkulation immer mehr zu.

Die akute Gefahr einer Eskalation geht derzeit nicht vom Ukraine-Krieg aus, sondern die Entwicklung scheint dort eher schleichend zu sein. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?

Die aktuelle Gefahr einer Eskalation ausserhalb des Ukraine-Konflikts ist derzeit nicht besonders hoch. Russland gewinnt zwar nach und nach an Territorium, jedoch verläuft der Krieg weitestgehend wie erwartet. Insgesamt ist es für Russland ein erfolgreiches Jahr. Die Ukraine wird in den kommenden Wochen jedoch ihre Fähigkeiten verbessern, da sie mehr Waffen- und Munitionslieferungen erhält und zusätzliche Truppen an die Front schickt. Der Konflikt wird sich in den nächsten Monaten intensivieren, da Russland versucht, so viele Gebiete wie möglich zu erobern, bevor mögliche politische Veränderungen im Weissen Haus eintreten.

Was würde sich ändern, wenn Trump im Weissen Haus wäre?

Mit Trump im Weissen Haus wäre die Wahrscheinlichkeit eines Waffenstillstands grösser. Vor der Wahl wird Russland so viel Territorium wie möglich gewinnen wollen, da Waffenstillstände basierend auf dem territorialen Status quo geschlossen werden. 

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Trump einen Waffenstillstand anstrebt?

Derzeit ist dies nicht das wahrscheinlichste Szenario, aber es wäre auf jeden Fall viel wahrscheinlicher als heute. Trump würde zur Ukraine sagen: ‹Setzt euch hin und verhandelt, sonst entziehen wir euch militärische Unterstützung und geben euch Hilfe für den Wiederaufbau. Die USA gibt euch etwas bessere Sicherheitsgarantien, und Ihr werdet schneller in die EU aufgenommen.› Die Ukraine würde sich das anschauen und denken, dass sie es eigentlich annehmen sollten, da die Alternative einfach zu düster ist. Zu Russland könnte Trump sagen: ‹Ihr behaltet dieses Territorium vorerst, es wird nicht offiziell anerkannt. Ihr bekommt einige Sanktionen aufgehoben und könnt wieder Beziehungen zu den USA aufbauen.›

Was passiert, wenn Russland Nein sagt?

Dann würde Trump antworten: ‹Okay, dann unterstützen wir die Ukraine eben noch stärker.› In diesem Szenario steigt auch die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Eskalation mit der NATO. Ich denke, die Ukraine hätte eher ein Interesse daran, unter Trump zu einem Waffenstillstand zu kommen. Russland ist jedoch die grössere Unbekannte. 

Russland verspürt weniger Druck?

Sie könnten denken, dass es für sie gut läuft - ihre Wirtschaft boomt, die Bevölkerung interessiert sich nicht besonders für den Krieg, sie verdienen sogar gut daran. Russland vertieft auch immer mehr seine Freundschaften mit Iran, Nordkorea, und China und profitiert davon. Es ist auch möglich, dass Russland aufgrund dieser Beziehungen nun mehr daran interessiert ist, den liberalen Westen zu erodieren. Das ist also eine mögliche Reaktion Russlands, und es besteht weiterhin Eskalationspotenzial. Das destabilisierendste Szenario für Europa wäre, wenn Trump die Ukraine nicht mehr unterstützt und es zu keiner Friedensvereinbarung kommt. Wenn dann einige europäische Länder sagen, dass sie die Ukraine weiterhin unterstützen, während andere europäische Länder das nicht mehr tun.

Mit welchen Entwicklungen wäre mit Kamala Harris zu rechnen?

Sie ist eine starke Befürworterin der NATO und zeigt eine deutliche Unterstützung für die Ukraine, möglicherweise stärker als Biden. Sie äussert auch eine kritische Haltung gegenüber Russland. Es könnte also sein, dass die USA die Ukraine unter Harris über einen längeren Zeitraum noch stärker unterstützen würden als bisher. Dadurch würden wir uns in einem völlig anderen Szenario befinden - einem Krieg, der länger dauern würde und geostrategisch eher darauf abzielen würde, Russland über einen längeren Zeitraum zu schwächen.

Was geht in Wladimir Putins Kopf vor?

Wahrscheinlich strebt Putin danach, ein erweitertes Reich im Sinne der russischen Geschichte und grosser Zaren zu hinterlassen. Er sieht sich selbst in dieser Tradition. Er ist davon überzeugt, dass westliche Demokratien nicht richtig funktionieren. Die Frage, was Russland eigentlich will, stellen sich viele Russland-Experten. Will Russland einfach ‹nur› ein etwas grösseres Territorium oder will es tatsächlich die westlichen liberalen Demokratien untergraben? Bisher konnte mir niemand eine definitive Antwort geben.

Oder will er beides?

Im Moment scheint es, als ob er in der Tat beides anstrebt. 

Der Westen versus China, Russland und Iran: Müssen wir in den nächsten Jahren mit dieser Zweiteilung rechnen?

Derzeit befinden wir uns in einer Welt, in der jeder vor allem seine eigenen Interessen verfolgt und wenig Interesse daran hat, sich stark zu positionieren. Länder wie Saudi-Arabien, die Türkei und Indien nutzen die bestehende Rivalität zwischen den USA und China aus, um ihren eigenen Einfluss zu erhöhen. Sie pflegen Handelsbeziehungen mit beiden Seiten und wissen, dass sie so besser von jedem Partner profitieren können. Wenn ihnen etwas von einer Seite verweigert wird, können sie es möglicherweise von der anderen erhalten. 

Aber würde unter Trump die Konfrontation zunehmen?

Es besteht weitgehend Einigkeit innerhalb der Republikanischen Partei, dass der Fokus stärker auf China gerichtet werden sollte und dass China als Rivale behandelt werden muss. Dies würde bedeuten, dass die USA mehr Druck auf Europa ausüben müssten, um sich von China zu distanzieren. Wenn dieser Einfluss in der US-Aussenpolitik unter Trump überwiegt, könnten wir tatsächlich eine Zweiteilung der Welt erleben. Wenn die USA beispielsweise Europa mit 20 oder 30 Prozent Einfuhrzöllen droht, sollten sie ihre Chinapolitik nicht an die der USA angleichen, , dann befindet sich Europa in einem grossen Dilemma. Es ist auch wahrscheinlich, dass eine Regierung unter Trump Einfuhrzölle auf Länder ausweiten würde, die derzeit stark von der Rivalität zwischen China und den USA profitieren, wie zum Beispiel Vietnam oder Mexiko. Diese Länder haben ihre Importe aus China stark erhöht und exportieren nun mehr in die USA. Die Waren fliessen also nicht mehr direkt von China in die USA, sondern über Drittländer.

Aber kann man sagen, dass die Präsidentschaftswahlen grundsätzlich sehr richtungsweisend sein werden?

Absolut. Die Präsidentschaftswahlen werden richtungsweisend sein, insbesondere für Europa. Europa hat am meisten zu befürchten, wenn Trump wiedergewählt wird, und die Wahlen werden auch darüber entscheiden, wie sich Europa geopolitisch positioniert - entweder mit stärkeren transatlantischen Beziehungen oder mehr auf sich selbst gestellt.

Und wie ordnen Sie das Thema Nearshoring ein? Wird es unabhängig von Trump fortbestehen?

Unter einer Trump-Regierung könnte es tatsächlich zu einer Deglobalisierung kommen. Wenn Handelszölle eingeführt werden und eine Industriepolitik betrieben wird, die Unternehmen zu einer lokalen Produktion drängt. Das Nearshoring wird so oder so weiterhin relevant bleiben, vor allem wegen der Systemrivalität der beiden Grossmächte USA und China.  

Das Thema künstliche Intelligenz ist heute allgegenwärtig. Wie betrachten Sie den technologischen Wettkampf zwischen den Grossmächten?

Aus geopolitischer Perspektive ergeben sich verschiedene Implikationen. Zunächst besteht eine klare Gefahr von Desinformation und politischer Fehlinformation. Die sozialen Medien haben bereits gezeigt, wie sie unsere Demokratien bedrohen können. Künstliche Intelligenz eröffnet neue Möglichkeiten, um Realitäten zu schaffen, die schwerer zu überprüfen sind. Dies birgt ein enormes Potenzial für politische Instabilität. Jedes Video kann gefälscht werden. Darüber hinaus wird künstliche Intelligenz auch im militärischen Bereich eine grosse Rolle spielen, da sie die Möglichkeit bietet, die militärische Kriegsführung zu verbessern. Wer die künstliche Intelligenz beherrscht, hat militärische Überlegenheit.

Was für ein Mindset müssen Investoren in einem solchen Umfeld haben?

Investoren müssen natürlich ständig beobachten, was passiert. Sie müssen jedoch auch über analytische Fähigkeiten verfügen, um zu verstehen, was tatsächlich relevant ist und was nicht. Wenn man sich nur von Schlagzeilen treiben lässt, besteht die Gefahr, falsche Investitionsentscheidungen zu treffen. Es ist auch wichtig zu verstehen, dass die geopolitische Lage heutzutage viel mehr ist als nur ein Faktor. Sie bestimmt mittlerweile den Hintergrund, vor dem beispielsweise Zentralbanken ihre Entscheidungen treffen. Es ist jedoch auch von grosser Bedeutung, diese geopolitischen Veränderungen als eine Möglichkeit zu betrachten, um Potenziale und Gewinne zu entdecken - sei es in geografischen, firmenbezogenen oder regionalen Aspekten, da es durchaus Gewinnmöglichkeiten in diesem Umfeld gibt.

Wer sind die Gewinnerländer?

Im Moment sind Saudi-Arabien, Indien oder Brasilien Gewinnerländer. Länder, die Verhandlungsmöglichkeiten haben und viele Ressourcen exportieren. Auch Länder wie Chile, das über eine erhebliche Menge an seltenen Erden verfügt, sowie Länder in Zentralasien gehören dazu. Es gibt auch Länder wie die Philippinen, die neue Handelsverträge mit den USA in Bezug auf Verteidigung abgeschlossen haben. Wenn ein Land China gegenübersteht und sich positioniert, sind die USA bereit, viel dafür zu investieren. 

Die Historikerin Anna Rosenberg ist Leiterin des Bereichs Geopolitik bei Amundi Investment Institute. Rosenberg kam von Signum Global Advisors zu Amundi, wo sie als Mitbegründerin und Senior Partnerin für das Research des Unternehmens mit Schwerpunkt Europa verantwortlich war. Bei der Frontier Strategy Group (jetzt FrontierView) gründete und leitete Rosenberg auch die Forschungspraxis für Subsahara-Afrika und war Mitbegründerin des makroökonomischen Prognoseprodukts des Unternehmens. Ihre Kommentare zur Politik und ihre Arbeit zur Unternehmensstrategie wurden u. a. in der Harvard Business Review, Bloomberg, dem Wall Street Journal, der BBC und CNBC veröffentlicht. Rosenberg ist ausserdem Gastwissenschaftlerin am London Institute of Banking and Finance und BBC Expert Woman. 

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