cash.ch: Über die letzten 20 Jahre hat die Aktie von Novartis ohne Berücksichtigung der Dividenden nur um relativ magere 42 Prozent zugelegt. In diesem Jahr sind es 8 Prozent. Hat Novartis die Trendwende geschafft?  

Stefan Schneider: Interessanterweise hat Novartis nicht nur ihren Ausblick bis 2027 am Capital Markets Day vor zwei Wochen angehoben, sondern auch ein langfristiges einstelliges Wachstum für die Jahre danach in Aussicht gestellt. Zudem hat Novartis in jedem Quartal 2023 den Ausblick für das laufende Jahr erhöhen können. Entsprechend beträgt das anvisierte Wachstum 2022-2027 neu 5 Prozent anstelle der 4 Prozent, wie bis anhin kommuniziert wurde. Am Markt ist bisher aber nur ein Wachstum von 4 Prozent eingepreist. Insofern hat der Novartis-Titel weiteres Kurspotenzial.  

Sie haben bei Novartis ein Kursziel von 101 Franken auf zwölf Monate, was einem Potenzial von 18 Prozent entspricht. Hinzu kommt noch eine Dividendenrendite von 3,56 Prozent.  

Das durchschnittliche Wachstum der Pharmabranche unter Ausschluss der stark wachsenden Segmente Diabetes und Schlankheitsmittel beträgt rund 4 Prozent. Ich erachte es deshalb als ein sehr starkes Statement von Novartis bezüglich Ihrer mittelfristigen und neu auch langfristigen Wachstumsprognosen.  

Lässt sich das mittelfristige Kurspotenzial von Novartis quantifizieren? 

Wir haben in unserem Modell ein Wachstum von durchschnittlich 4 Prozent pro Jahr über die kommenden fünf Jahre eingerechnet. Das entspricht ungefähr dem aktuellen Konsens unter den Analysten. Vor 18 Monaten ging der Markt noch von 1,5 Prozent aus und wir von gut 2 Prozent, obwohl Novartis schon damals für die 5-Jahres-Periode 4 Prozent Umsatzwachstum in Aussicht gestellt hatte. Insofern waren wir und der Markt viel zu konservativ, denn die neuen Produkte von Novartis wurden am Markt viel erfolgreicher als erwartet aufgenommen. Wenn die Aktie bei einem Wachstum von 4 Prozent 101 Franken wert ist, dann besteht weiteres Potenzial, wenn Novartis tatsächlich 5 Prozent Wachstum abliefert – und das erst noch längerfristig. Novartis ist daher eine attraktive Anlagemöglichkeit.  

Viele Investoren blicken trotzdem neidisch auf Novo Nordisk und Eli Lilly, die an der Börse viel mehr zugelegt haben. Wie hoch ist denn das Wachstum im Bereich der Diabetes- und Schlankheits-Medikamente, wo Novo Nordisk und Eli Lilly besonders stark sind? 

Wir haben hier mit Eli Lilly und Novo Nordisk zwei Unternehmen, die mit deutlich höheren Wachstumsraten aufwarten. Entsprechend sind die Bewertungskennziffern für diese zwei Unternehmen völlig anders als bei Novartis und auch Roche. 

Wieso ist das ausgewiesene Wachstum bei Roche so dürftig? 

Roche hatte jahrelang eine Leader-Position bei den monoklonalen Antikörpern, was ihr vor allem grosse Krebsmedikamente bescherte. Seit der Zulassung von Biosimilars sind die Umsätze einiger dieser Produkte erodiert. Zudem generierte die Diagnostiksparte von Roche während der Corona-Pandemie Spitzenumsätze, die sich dieses Jahr nun normalisieren. Aufgrund dieses Basiseffekts wird das jährliche Wachstum im laufenden Jahr belastet.

Die Roche-Valoren sinken und sinken. Geht die Talfahrt weiter? 

Roche ist sehr früh in die personalisierte Medizin eingestiegen, und nachdem jahrelang alles gut funktioniert hat, kam 2022 der Bruch, als es drei Rückschläge in der Entwicklung bei potenziellen Blockbustern gab. Dadurch ging Roche Wachstum verloren, das nun nach 2025 fehlen wird. Zudem wird 2025 ein Blockbuster-Produkt den Patentschutz verlieren, was sich zusätzlich negativ auf das Wachstum auswirken wird. Im laufenden Jahr fehlen Roche die Pandemieumsätze. Das betrifft vor allem die Diagnostiksparte, die praktisch keine Covid-Tests mehr verkauft. Daher erscheint das Gruppenwachstum negativ, auch wenn das Kerngeschäft gesunde Wachstumsraten aufweist. In 2024 und 2025 erwarten wir etwa 6 Prozent ausgewiesenes Wachstum, denn der Basiseffekt wegen der fehlenden Pandemieumsätze liegt dann in der Vergangenheit. Aber aufgrund der missglückten Studien in 2022 fehlen die entsprechenden Produkte, um das Wachstum nach 2025 zu unterstützen.  Daher gehen wir davon aus, dass sich das Wachstum in den Jahren nach 2025 auf geschätzte 2 Prozent abkühlen wird. 

Woher soll denn das Wachstum kommen? 

Roche wird nur über Akquisitionen wieder auf einen besseren Wachstumspfad nach 2025 einschwenken können, da die eigene Medikamentenentwicklung zu lange dauert, um so kurzfristig einen Wachstumsbeitrag zu leisten. Der neue CEO Thomas Schinecker hat im Juli denn auch betont, dass Roche neu Produktkandidaten in einem späten Entwicklungsstadium kaufen will - und seither haben wir bereits erste Akquisitionen gesehen. Das Geld für diese Strategie hat Roche. Generell macht es Sinn, dass eine Pharmafirma nicht nur auf das Wissen im eigenen Haus baut, sondern auch über Akquisitionen versucht, Wachstum zu generieren.   

Ist Roche überhaupt ein Kauf? 

Seit den Entwicklungsrückschlägen im 2022 hat der Kurs der Roche-Genussscheine sehr stark gelitten. Wir meinen, die Roche-Titel sind stark unterbewertet und stellen eine Kaufgelegenheit dar. Aber, wie wir bereits oft gesehen haben im Pharmabereich: Eine unterbewertete Aktie ist noch kein Kaufsignal. Dieser Zustand der Unterbewertung kann so lange dauern, bis ein Katalysator das Investoreninteresse wieder weckt.  

Ist die Übernahme von Carmot Therapeutics, ein Spezialist für Abnehm- und Diabetesmedikamente, vom Montag ein solcher Katalysator?

Wir haben bereits am 23. Oktober die Übernahme von Telavant gesehen mit einem Produktkandidaten, der für die späte Entwicklungsphase vorbereitet wird. Am Montag haben wir nun Roches erneuten Eintritt in die Indikationen Diabetes und Fettleibigkeit durch die Carmot-Übernahme gesehen. Die Produkte sind erst in der mittleren Entwicklungsphase. Aber das Marktpotenzial ist sehr gross, sollten sich die positiven Resultate der frühen Entwicklungsphase bis zur Marktreife bestätigen. Wenn wir die Kursentwicklung von Novartis anschauen, so stellen wir fest, dass Novartis in 2018/19 fünf grössere Akquisitionen tätigte, die schlussendlich den Aktienkurs nach einer längeren Stagnationsphase beflügelten. Es wird unseres Erachtens auch bei Roche mehrere Akquisitionen brauchen, um die Investoren davon zu überzeugen, dass die Firma mit den Übernahmen die richtigen Parameter adressiert und wieder auf einen nachhaltigeren Wachstumskurs einzuschwenken kann. Und die Übernahme von Carmot scheint seinen Teil dazu beizutragen.

Im Gegensatz zu Novartis bei Roche also abwarten? 

Bei Novartis kauft der Investor eine leicht unterbewertete Aktie mit einem attraktiven Wachstum von 4 bis 5 Prozent. Roche ist deutlich unterbewertet, aber es braucht diesen Katalysator. Da wir im 2024 keine gossen Resultate aus der Pipeline erwarten, gehen wir davon aus, dass Akquisitionen von weiteren attraktiven Produktkandidaten solche Katalysatoren darstellen könnten.  

Was hat Novartis auf der anderen Seite richtig gemacht? 

Bei Novartis ist das Geschäftsmodell als Gesundheitsdienstleister mit verschiedenen Divisionen schon vor einiger Zeit an sein Ende gekommen. Das Modell war zwar gut diversifiziert, aber man hat die Ziele nicht mehr erreicht, weil das, was auf der einen Seite gewonnen meistens auf der anderen Seite wieder verloren ging. Deshalb wurden die Divisionen Impfstoffe und Tiergesundheit im 2014 und 2015 verkauft. Es folgte der Ausstieg aus den Rezeptfreien Medikamenten im 2018, der Spin-off von Alcon im 2019 sowie der Spin-off des Generikageschäfts Sandoz im Oktober dieses Jahres. Die Transformation ist nun vollzogen und Novartis ein reines Pharmaunternehmen, das seine Managementkapazitäten auf diesen Bereich fokussiert. Da hat Novartis in letzter Zeit alles richtig gemacht.   

Was hat sich in den letzten Jahren verändert? 

Früher war das Pharma-Business auch ein Nachahmermarkt. Hat zum Beispiel eine Firma ein neues Medikament erfolgreich auf den Markt lanciert, so hat ein Konkurrent das Produkt ebenfalls selber («me too») entwickelt und einige Jahre später auf den Markt gebracht. Zudem war es die Zeit, als Medikamente weniger personalisiert waren. Mit anderen Worten: Weil man zum Beispiel nicht wusste, warum ein Patient Lungenkrebs hatte, wurden Medikamente allen Lungenkrebspatienten verschrieben, obschon gewisse Patienten darauf nicht ansprachen. Diese Zeiten sind vorbei. Über diagnostische Tests weiss man heute, welcher Typ von Lungenkrebs ein Patient hat, und man verschreibt ein Medikament, das spezifisch für diese Patenentengruppe entwickelt wurde. Das schränkt zwar die Anzahl Patienten pro Medikament ein, aber aufgrund der besseren Resultate in der Patientengruppe können höhere Preise verlangt werden. Unter anderem deshalb werden Medikamente tendenziell immer teurer.  

Die Herausforderungen für Innovation dürften demnach enorm zugenommen haben? 

Diese Veränderung im Markt hat Novartis-CEO Vasant Narasimhan richtig erkannt und entsprechend die Transformation von Novartis in eine reine und fokussierte Pharmafirma forciert. In diesem Zusammenhang hat Novartis auch ihre Produkte-Pipeline von 155 auf rund 103 zusammengestrichen. Diese verbliebenden Kandidaten passen nun in die von Novartis definierten vier Indikationsgebiete und haben laut Novartis ein Marktpotenzial von mindestens 2 Milliarden US Dollar. Auch mit dem Einkauf von verschiedenen Technologie-Plattformen hat Novartis in den letzten Jahren den richtigen Weg eingeschlagen.    

Die Übernahmen von Novartis sind grösstenteils bei Firmen, deren Medikamente oder Wirkstoffe sich bereits in einem späten Stadium befinden? 

Übernahmen sind ein Teil der Strategie. Da Novartis aus der Basler Chemie hervorgegangen ist, sind chemisch hergestellte Medikamente das Herzstück von Novartis Produkteportfolio. Da man aber mit neueren Technologien, wie zum Beispiel der Gentherapie, Krankheiten heilen kann, denen man nicht beikommt mit den herkömmlichen Medikamenten, hat Novartis in den letzten Jahren drei Technologieplattformen gekauft. Jede dieser Übernahmen brachte zudem ein Produktkandidat in der späten Entwicklungsphase mit. Novartis strebt in diesen neuen Technologien eine führende Rolle an, die sich schlussendlich für Patienten, Novartis und Investoren auszahlen sollen.  

Roche ist bereits 1990 bei Genentech eingestiegen und hat die Firma 2009 vollständig übernommen. Hat Novartis damals den Anschluss verloren?   

Durch die Übernahme von Genentech hat Roche sich die führende Position in der dazumal neuen Technologie der antikörperbasierten Medikamente gesichert. Retrospektiv betrachtet war es ein Fehler, dass Novartis sich nicht mehr in diesem Bereich engagierte, denn diese neuartigen Medikamente entwickelten sich zu einer sehr grossen Produktklasse. Aber aufgrund der Historie der Firma im Chemiesektor und der späteren starken Diversifizierung in andere Geschäftsbereiche blieb Novartis zu wenig aktiv im Bereich Antikörper-Technologie. Die anderen grossen Pharmafirmen wie Pfizer, Eli Lilly oder Merck sind auf den Zug dieser neuen Technologie aufgesprungen und haben dieser Produktgruppe zu ihrem fulminanten Durchbruch verholfen.  

Die neue Strategie bei Novartis scheint nun aber aufzugehen?  

Der CEO von Novartis rennt nicht der Entwicklung von mittlerweile über 20-jährigen monoklonalen Antikörper nach, sondern setzt auf zukünftige Technologie-Plattformen, welche nahe an der Marktreife sind. So wissen wir seit Corona, dass RNA eine erfolgreiche Technologie mit viel Potenzial ist. Novartis hat sich auch in der Gentherapie eingekauft als auch bei den Radioliganden. Bei der Gentherapie werden Gene in den Körper gebracht. Diese Gene kodieren Proteine im Körper, die dort bestimmte Aufgaben erfüllen. Bei der Radioliganden-Therapie werden gezielt radioaktive Moleküle in die Nähe von Krebszellen gebracht, die dann so abgetötet werden. Sollten diese Technologien die Erwartungen erfüllen, kann Novartis neue Märkte erschliessen, auf denen derzeit noch wenig Konkurrenz vorhanden ist. 

Stefan Schneider ist Senior Analyst für Pharma- & Biotech-Aktien im Vontobel Research-Team. Er stiess 2015 zum Team und trägt einen PhD des Instituts für medizinische Virologie der Universität Zürich sowie den Chartered Financial Analyst (CFA) Titel.

Thomas Daniel Marti
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