Sein Land werde dazu eine neue nationale Seestrategie erarbeiten, kündigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache an. «Wir verstehen klar, dass der Krieg das Kräfteverhältnis in unserer Schwarzmeerregion verändert hat und die russische Flotte in diesem Gewässer niemals mehr dominieren wird», gab sich Selenskyj optimistisch. Die Ukraine werde ihre eigenen nationalen Interessen auf See und die ihrer Partner verfolgen und Verkehrsrouten schützen, sagte er.

Russland hatte bereits bei der Annexion der Krim 2014 einen Grossteil der ukrainischen Flotte in Besitz genommen. Weitere Schiffe gingen für Kiew kurz nach Beginn der grossangelegten russischen Invasion 2022 mit der Eroberung der Hafenstadt Berdjansk im südukrainischen Gebiet Saporischschja verloren. In Mykolajiw ging das Flaggschiff der ukrainischen Marine, die Hetman Sahaidatschnyj unter.

Auch wenn die ukrainische Marine derzeit nicht über grössere Kriegsschiffe verfügt, ist es Kiew gelungen, die russische Schwarzmeerflotte aus dem westlichen Teil des Schwarzen Meeres zu vertreiben. Damit konnte auch der Seehandel über Odessa zumindest teilweise wiederbelebt werden. Die ukrainische Marine soll in der nächsten Zeit auch durch Lieferungen westlicher Partner aufgerüstet werden.

Neben der Stärkung der eigenen Schlagkraft auf See versprach Selenskyj auch die weitere Verbesserung der Flugabwehr. Er verwies in dem Zusammenhang auf den Erhalt einer weiteren Patriot-Einheit aus Deutschland und deutete weitere Verstärkungen bereits in der kommenden Woche an.

Die schweren Kämpfe im Osten der Ukraine halten derweil nach Angaben der Militärführung in Kiew weiter an. «Am heissesten war die Lage heute im Raum Pokrowsk, daneben war der Feind auch in Richtung Lyman und Kurachowe aktiv», teilte der ukrainische Generalstab in seinem abendlichen Lagebericht mit. Alle drei genannten Städte liegen im ostukrainischen Gebiet Donezk. Im Tagesverlauf sei es zu 123 Gefechten gekommen.

Allein 41 davon wurden demnach aus dem Raum Pokrowsk gemeldet. Bei Lyman und Kurachowe waren es 19 und 17 Attacken. Während nach Angaben des Generalstabs 29 Angriffe bei Pokrowsk inzwischen abgewehrt werden konnten, hielten 12 Kämpfe weiter an. Die Verteidiger unternähmen alles, um die Lage zu stabilisieren und ein Vordringen des Feindes tief in ukrainisches Gebiet zu verhindern, hiess es.

Die Ukraine verteidigt sich seit mehr als zwei Jahren gegen den russischen Angriffskrieg.

Russische Truppen rücken im Raum Pokrowsk vor

Das russische Verteidigungsministerium hatte zuvor am Tag in diesem Raum die Eroberung des Dorfes Sokil gemeldet. Der Heeresgruppe Zentrum sei durch aktives Handeln gelungen, die Ortschaft einzunehmen und ihre taktische Lage zu verbessern, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Die ukrainische Seite kommentierte dies zunächst nicht. Unabhängig lassen sich die Berichte der Kriegsparteien oft nicht nachprüfen.

Allerdings hat das dem ukrainischen Verteidigungsministerium nahestehende Portal «Deepstate» bereits Ende Juni den kleinen Flecken unmittelbar neben der wesentlich grösseren und lange umkämpften Ortschaft Otscheretyne als unter russischer Kontrolle markiert. Sokil, das bei einer Volkszählung vor 20 Jahren wenige Dutzend Einwohner hatte, liegt im Landkreis Pokrowsk. Pokrowsk gilt als eins der möglichen Ziele des russischen Vormarsches in dem Raum.

Sokil taucht auch im Lagebericht des Generalstabs nicht mehr auf, dafür die westlich davon gelegene Ortschaft Prohres. Nach Angaben des ukrainischen Militärs sind im Raum Pokrowsk mehr als 180 russische Soldaten gefallen. Daneben seien mehrere russische Militärfahrzeuge vernichtet worden. Unabhängig lassen sich auch diese Angaben nicht überprüfen.

Der Frontabschnitt bei Pokrowsk gilt als vergleichsweise gefährdet. Nachdem die russischen Truppen zu Jahresbeginn die Festung Awdijiwka einnehmen konnten, rücken sie seit Monaten langsam weiter vor. Der Ukraine ist es bislang nicht gelungen, den Vormarsch endgültig zu stoppen und die Verteidigungslinien zu stabilisieren.

Auch bei Tschassiw Jar, westlich von Bachmut, tobten weiterhin schwere Kämpfe. Dort hatten russische Truppen vor wenigen Tagen knapp ein Viertel der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Nach Darstellung des ukrainischen Militärs zahlte die russische Armee dafür jedoch mit knapp 5.000 Toten einen hohen Preis. «Russische Mütter und Ehefrauen sollen wissen, dass 5.000 Männer nicht heimkehren, weil sie einen Ortsteil erobern mussten», sagte ein ukrainischer Militärsprecher im Fernsehen. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.

Die russischen Streitkräfte haben den Osten der Ukraine in der Nacht erneut mit sogenannten Kamikaze-Drohnen angegriffen. Die Flugabwehr in Charkiw und Sumy berichtete von Einflügen der Shahed-Drohnen in mehreren Wellen. Über die Auswirkungen der Angriffe machten die ukrainischen Militärs zunächst keine Angaben.

(AWP)