cash.ch: Rudi Van den Eynde, Sie sind Fondsmanager des Onkologie-Fonds bei Candriam. Wie gross ist der Markt für Onkologie?

Rudi Van den Eynde: Der weltweite Markt für Onkologie-Medikamente ist um die 200 Milliarden Dollar schwer. Nicht nur ist dies der grösste Teilbereich des Gesundheitsmarkts, sondern auch das geschätzte Wachstum für die nächsten Jahre ist das grösste. 

Warum ist das Wachstum so stark?

Es ist eine Krankheit, bei der die Anzahl Patienten wächst, da die Weltbevölkerung immer älter wird. Im Allgemeinen kriegen Menschen Krebs mit 60 Jahren und älter. Ausnahmen sind Darmkrebs oder Brustkrebs, wo die Patienten immer jünger zu werden scheinen. Die Preisgestaltungsmacht für Medikamente ist hoch. Für ein gutes Medikament kann man hohe Preise verlangen, da die Krankheit tödlich ist. Das Medikament Krazati von Mirati hat einen Grosshandelspreis von 237'000 Dollar pro Jahr. Man muss sagen, dass die Krankenkassen, privat oder staatlich, einen Discount erhalten oder vereinbaren und die Nettopreise niedriger sind. Krazati ist nicht unbedingt das teuerste Medikament, es ist nur ein Beispiel der allgemein üblichen Preisgestaltung.  

Gibt es weitere Daten, die die Bedeutung der Onkologie untermauern?

Es gibt weltweit ungefähr 6200 Medikamente in klinischer Entwicklung. 38 Prozent davon betreffen die Onkologie. Und auch 30 Prozent der wissenschaftlichen Arbeiten betreffen im Gesundheitsbereich dieses Gebiet, glauben wir. Die Pharmaunternehmen sagen auch selbst, dass dies ein klarer Fokus darstellt. Ein gutes Medikament hilft dem Patienten, es verkauft sich gut, und das ist gut für den Aktionär einer Firma.

In der Schweiz fragen sich die Anlegerinnen und Anleger, wie es im Onkologiebereich bei Roche weitergeht. 

Das ist eine sehr berechtigte Frage.

Warum ist dies eine berechtigte Frage?

In den 90er Jahren war Roche Pionier und innovativer Leader im Bereich der Onkologie. Die ersten Antikörper, die auf den Markt kamen, wie Rituxan für Lymphome oder Herceptin für Brustkrebs, galten erstmals zum Teil als personalisierte Medizin. Mit Kadcyla war Roche auch Pionier bei ADC - Antibody-drug conjugate. Auch wenn das Medikament verbesserungsfähig ist, war dies eine Innovation und ein Schritt nach vorne. Seither geht die Innovation im Onkologiebereich bei Roche leise zurück, aber man darf die breite Pipeline eines grossen Pharmakonzern niemals unterschätzen. 

Pfizer zahlt 43 Milliarden Dollar für den Krebsspezialisten Seagan. Ein guter Kauf?

Dies ist ein stolzer Betrag. Dies ist zum Teil eine Wette auf die ADC-Technologie. Dies ist etwas, das derzeit viele Unternehmen machen. Novartis hat beispielsweise ein Radio-Isotop auf einen Antikörper gesetzt, das ist ein Medikament gegen Prostatakrebs. Der CDK 4/6 Antagonist Kisqali sieht vielversprechend aus in adjuvant Brustkrebs. 

Man sagt, dass Roche sich bezüglich dieser Technologie zurückhält. Ist dieser Vorwurf fair?

Das ist unfair. ADC ist für Roche eine von vielen Technologien, die Erfolg bringen können. Man kann im Onkologie-Bereich nicht sagen, diese Technologie kann alles und diese ist wertlos. Der Fortschritt findet im Onkologie-Bereich über eine ganze Palette von Technologien statt – ob Impfstoff, ADC, Cell Therapie/CART-T oder Small Molecules. Es wird nie eine Pille oder ein Medikament geben, das allen Krebs beseitigt. Es ist ein komplexer Kampf, und Krebs ist nicht eine Krankheit, sondern eine Gruppe verschiedener Arten von Krankheiten. Daher müssen einzelne Krankheiten mit spezifischen Technologien bekämpft werden. Und daher hat Roche mit dieser breiten Palette von Technologien nicht unrecht.

Wie würden Sie die Entwicklung in der Onkologie in den letzten Jahren beschreiben?

In allen Technologie-Teilbereichen hat es Fortschritte gegeben. Die Antikörper, die Kinaseninhibatoren und die Zelltherapie werden besser. Sogar Impfstoffe, wie das Moderna macht, sehen in Teilbereichen interessant aus. 

Inwiefern hat der Impfstoff von Moderna Bedeutung?

Bei Hautkrebs, wenn die Diagnose frühzeitig erfolgt, wird der Krebs operativ entfernt. Das war, was man seit zehn, 20 Jahren - seit jeher - macht. Das Risiko besteht darin, dass kleine Stücke Krebs in der Haut überleben, was sehr gefährlich sein kann. Bis jetzt gibt man nach der chirurgischen Entfernung eventuell Medikamente wie PD 1 Inhibitoren. Moderna hingegen nutzt die entfernten Krebszellen, analysiert diese pro Patienten und identifiziert die Antigene, die den Krebs charakterisieren. Aufgrund dieser Analyse macht man einen Impfstoff. Dieser aktiviert das Immunsystem des Patienten im Kampf gegen diese Krebszellen. Das hat gute klinische Daten gegeben. Das Potential ist jetzt immer noch schwer vorhersehbar, Melanom ist einer der am meisten 'immunoresponsiven' Tumoren. 

Welche klinischen Meilensteine könnten bevorstehen?

Der Fortschritt geht in der Breite weiter, weil immer bessere Technologien dies ermöglichen. Die Anwendungen werden immer gezielter und man versucht immer mehr, nur die Krebszellen mit der Behandlung zu treffen. Wegen dieser Entwicklung kann man auch die Dosis erhöhen, da man die gesunden Zellen weniger oder gar nicht trifft. Dies ermöglicht eine immer höhere Effizienz.

Glauben Sie daran, dass die bestehenden Ängste vor Krebs in naher Zukunft wegen besserer Heilungsaussichten verschwinden?

Bereits heute muss man weniger Angst haben als vor 20 oder sicher schon mal 40 Jahren, auch wenn die Diagnose immer noch ein Schock ist. Die Überlebensquote fünf Jahre nach der Krebsdiagnose ist bei den meisten Krebsarten in den letzten 40 Jahren klar angestiegen. Bei Brustkrebs liegt diese bei über 90 Prozent. Über alle Krebsarten ist diese Überlebensquote von 49 auf 68 Prozent gestiegen. Dabei geht es aber nicht nur um eine Behandlung, sondern auch um eine bessere Diagnose.

Früherkennung rettet Leben…

Was man haben muss, ist eine einfache Diagnose, die man in grossen Mengen jedes Jahr machen kann. Beim Darmkrebs ist man immer öfters zu spät. Wer macht schon eine Endoskopie alle drei Jahre? Die Idee ist jetzt, dass man mit einem Bluttest Darmkrebs gut erkennen kann. Die Technologie ist da. Wenn man einen Darmkrebs rechtzeitig erkennt, kann man chirurgisch gut eingreifen und der Patient kann noch sehr viele Jahre leben. Wenn man es zu spät erkennt, wird der Patient wahrscheinlich auch mit den besten Medikamenten an diesem Krebs sterben. Solche Krebsarten, die zu weit vorangeschritten sind, kann man fast nicht heilen. 

Was charakterisiert die Krankheit Krebs in der Zukunft?

Es ist ein Kampf an allen Fronten mit allen Technologien und langsam wird Krebs zu einer chronischen Krankheit und für manche Patienten komplett heilbar sein. Im Allgemeinen versucht man für die nächsten 10 bis 15 Jahren daraus eine chronische Krankheit zu machen, so dass man schlussendlich von einem Herzinfarkt oder einem Nierenversagen stirbt - aber auch dort gibt es Medizinische Fortschritte. Man sollte aber nicht mit 50 oder 60 an Krebs sterben.

Wie hoch ist denn jetzt die Wahrscheinlichkeit, dass man Krebs bekommt?

Wir alle haben 40 Prozent Wahrscheinlichkeit, irgendeinmal Krebs zu haben. Das heisst nicht, dass man daran stirbt. Und es heisst nicht, dass man dies auch weiss. Viele Männer zwischen 70 und 80 haben Prostatakrebs und wissen es nicht. Dieser Krebs entwickelt sich oft langsam und die Symptome sind nicht so deutlich. Man kriegt vielleicht zum Beispiel einen Herzinfarkt, bevor der Prostatakrebs fatal wird. Dennoch, 40 Prozent ist eine erschreckende Zahl. 

Wie wählen Sie Titel für Ihren Fonds aus?

Die klinischen, wissenschaftlichen Daten sind entscheidend. Das gleiche gilt für den Biotechnologie-Bereich. Wir versuchen zu sagen, welche Medikamente auf den Markt kommen und für den Patienten einen Unterschied machen. Denn, wenn es dort funktioniert, dann hat man eigentlich bei der Aktie immer ein Aufwärtspotenzial. 

Bei den grossen Pharmafirmen ist meist die Pipeline gut diversifiziert. Problematisch für Anlegerinnen und Anleger sind Investments in Biotech-Firmen mit wenigen Produktkandidaten und sehr früh in der Entwickelung...

Es sieht von aussen oft gut aus mit vielversprechenden präklinischen Daten. Doch mehr als 90 Prozent solcher Produktkandidaten kommen nie an den Markt. Wir raten auch erfahrenen und gut informierten Anlegern an, hier das nötige Research zu machen und sich skeptisch aufzustellen, wen man sich bei den Investitionen auf nur eins oder wenige Unternehmen fokussiert. 

Es gibt es derzeit die hohen Zinsen, was nicht gut ist für spekulative Anlagen im Biotechbereich, aber für die etablierten Pharmagrössen. Die Hoffnung besteht gleichzeitig, dass die Notenbanken schon bald die Zinsen senken. Stellt das aktuelle Marktumfeld einen guten Moment dar, um in Gesundheitstitel zu investieren?

Die Diskussion in diesem Jahr wird sein, wann sind die Zinsen auf dem Höhepunkt und wie niedrig können diese dann wieder fallen. Wir sind nicht weit vom Höhepunkt entfernt und die Inflation wird sich gegen Ende des Jahres zu normalisieren beginnen. Aber die Niveaus, die vor vier oder fünf Jahren vorherrschten, werden wahrscheinlich nicht mehr erreicht. Die Inflation bleibt in den nächsten Jahren daher erhöht und die Zinsen werden nicht wieder auf null gehen. Das Umfeld wird sich verbessern, aber aus unserer Sicht nicht auf das aktienfreundliche Niveau der letzten zehn Jahre.

Was heisst dies für die Aktien-Auswahl?

Stock-Picking wird in der Zukunft wichtig bleiben. Für Biotechbereich gilt dasselbe wie bei der Onkologie: Ein Medikament, das für die Patienten den Unterschied ausmacht, wird die Aktie der Firma hochgehen lassen. Wenn ein Biotechunternehmen ein gutes Medikament entwickelt, dann sind die Zinsen sekundär. Denn der Absatzmarkt ist gross genug und die Aktie kann Luft nach oben haben. Egal, wie sich der Gesamtmarkt entwickelt. 

Was sind die wichtigsten Entwicklungen im Biotech-Bereich?

Die Gentechnik sticht hervor. Gentherapien und Genom-Editierung werden allmählich salonfähig. Mit Gentherapie gibt man dem Körper DNA-Instruktionen, etwas zu produzieren, was der Körper nicht hat. Bei der Genom-Editierung ändert man die DNA des Körpers. Wir haben alle defekte und Mutationen. Aber wenn eine solche Mutation eine Krankheit gibt, dann wird man versuchen, diese Mutation im Körper für immer zu ändern. 

Wie gross ist der Markt in der Gentechnik?

Den Markt einzuschätzen ist in diesem Stadium schwierig, aber wenn man sich die Zahl der 'Orphan Diseases' anschaut, kann dieser Markt potentiell gross sein. Wie immer muss man sich die klinischen Daten anschauen und dann das kommerzielle Potential des Medikaments gegen den Aktienwert kalibrieren. Aber wie im Onkologiebereich geht der Fortschritt im breiten Biotechnologiebereich über viele Modalitäten und Technologien. 

Seit ChatGPT wird viel über Künstliche Intelligenz gesprochen. Wie eine grosse Rolle spielt dies im Gesundheitssektor?

Es spielt nicht nur beim Medikamentendesign eine Rolle. Es ist wichtig im Bereich der Diagnose und der Verwertung von X-Ray-Bildern und Scans im Allgemeinen. Wir haben zu wenig Radiologen und Ärzte, um dies alles in Ruhe anzuschauen. Die Künstliche Intelligenz kann dies ohne Unterbrechung machen. Künstliche Intelligenz ersetzt nicht den Radiologen, es ist nicht besser als der Radiologe, aber beide zusammen sind unschlagbar. Das spart viel Zeit. 

Im Gesundheitsbereich sind meist Unternehmen aus Europa und den USA im Fokus. Wie sieht es mit China aus?

China ist ein Absatzmarkt. Abgesehen davon wird China immer mehr zur Konkurrenz. Sie sind technisch jetzt in der Lage spezifische Medikamente basierend auf schon bekannten Wirkungsmechanismen wie BTK Inhibierung zu entwickeln und zu produzieren, und diese Medikamente sind manchmal sehr gut und kompetitiv. Sie sind aber, aus unserer Sicht, noch nicht in der Lage, selbst neue Modalitäten und Wirkungsmechanismen zu entwickeln. Ein Ökosystem im Zusammenspiel von Pharma und Universitäten, wie es dies in Boston, der San Francisco Bay Area und auch in Europa gibt, existiert in China noch nicht in diesem Umfang. Aber der Fortschritt dort ist rasant. 

Rudi Van Den Eynde ist Head of Thematic Global Equity bei Candriam und leitet ein 20-köpfiges Team mit einem verwalteten Vermögen von 11 Milliarden Dollar. Er managt ausserdem Candriams Onkologie- und Biotech-Fonds. Rudi Van den Eynde kam 1998 als leitender Aktienfondsmanager zu Candriam und wurde 2011 Head of Thematic Global Equity. Er begann seine Karriere 1987 in der Abteilung für Euro-Anleihen der Dexia Bank Belgien. Dort war er elf Jahre lang in verschiedenen Funktionen tätig, unter anderem vier Jahre lang als Devisenhändler und später als institutioneller Portfoliomanager.

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