Im Zentrum stehen Industrieländer, die ihren wachsenden Schuldenbergen kaum Einhalt gebieten können. Vor allem die USA, Italien und Grossbritannien liefen Gefahr, auf eine Finanzkrise zuzusteuern, warnen mehr als 20 von Reuters befragte Experten - darunter prominente Ökonomen und Investoren. «Sie können heute viele, viele Länder nehmen, und Sie werden sehen, dass wir nicht mehr weit von einer Krise der öffentlichen Finanzen entfernt sind», warnt Peter Praet, Ex-Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank.

Die Schulden von Industrieländern machten 80 Prozent der zehn Billionen Dollar aus, um die der weltweite Schuldenberg im ersten Halbjahr 2023 gewachsen sei, errechnete das Institute of International Finance (IIF) mit Sitz in Washington. Mittlerweile hat die Summe der globalen Staatsschulden einen Rekordwert von 307 Billionen Dollar erreicht. Die Verschuldung sei vielleicht noch tragbar, konstatiert Praet. Aber wegen der hohen Ausgaben, die auf die Industrieländer zukämen, sei sie besorgniserregend. Auch die Investoren sind nervös: «Die Defizite und Schuldenlevel machen uns Sorgen», sagt etwa Daniel Ivascyn, Chefstratege beim Fondsanbieter Pimco.

Den meisten Experten zufolge haben vor allem Ausgabenpläne, die nicht eingehalten werden. das Potenzial, Marktturbulenzen auszulösen. «Längerfristig stellt die Entwicklung der Staatsverschuldung die grösste Gefahr für die makroökonomische und finanzielle Stabilität dar», sagt Claudio Borio, Leiter der Währungs- und Wirtschaftsabteilung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ).

Die Sorgenkinder

In den USA, Italien und Grossbritannien liegt die Staatsverschuldung über oder in etwa auf dem Level der Gesamtproduktion. Das macht diese drei Staaten zu besonderen Sorgenkindern.

Anfang August entzog die Ratingagentur Fitch den USA überraschend die Spitzen-Bonität. Für die Regierung wird es somit teurer, am Finanzmarkt neue Schulden aufzunehmen. Bei den USA sei das Risiko für einen Zahlungsausfall allerdings gering, so die Einschätzung von Olivier Blanchard, ehemaliger Chefökonom des IWF. Realistischer sei, dass die Sorgen der Finanzmärkte in den Preisen für Staatsanleihen abgebildet würden und damit eine scharfe Anpassung erfolgen müsse.

In Europa steht der italienische Schuldenberg in Höhe von 2,4 Billionen Dollar im Zentrum der Sorgen. Nach einer gesenkten Wachstumsprognose und angehobenen Projektionen für das Haushaltsdefizit war die Risikoprämie für italienische Staatsanleihen in diesem Monat sprunghaft angestiegen. Währungshüter der EZB sehen Insidern zufolge noch keinen Handlungsbedarf für Hilfsaktionen. Im November aber will die Ratingagentur Moody’s Italien erneut bewerten. Eine Herabstufung in dem Ramschbereich (Non-Investment Grade) würde Experten zufolge einen Kipppunkt darstellen. Ein solches Szenario hätte erhebliche Auswirkungen auf Südeuropa, warnt Jim Leaviss vom Vermögensberater M&G Investments.

Deutsche Disziplin

Effiziente Ausgaben, höhere Steuern und Wachstumspläne sind den meisten Experten zufolge der Schlüssel zum Schuldenabbau. Zurzeit verstärken vor allem die mit der strafferen Geldpolitik einhergehenden steigenden Zinszahlungen den Druck auf verschuldete Staaten. So werden die Zinskosten Grossbritanniens bis 2027-2028 voraussichtlich auf 7,8 Prozent der Einnahmen steigen. Dies wäre ein Anstieg um 4,7 Prozentpunkte im Vergleich zu 2020-2021, wie die unabhängige Haushaltsbehörde (OBR) mitteilte.

Auch in Deutschlands sind die Zinsausgaben laut Bundesrechnungshof seit 2021 um das Zehnfache auf voraussichtlich fast 40 Milliarden Euro gestiegen. Bundesfinanzminister Christian Lindner zufolge ist Deutschland bei den Verschuldungskriterien jedoch auf dem richtigen Weg. Für den Gesamtstaat wachse die Schuldenquote seit 2023 nicht mehr. Das öffentliche Defizit werde dieses Jahr statt ursprünglich geplanter 4,25 Prozent wohl eher bei 2,5 Prozent landen. Im nächsten Jahr könnten es zwei Prozent oder sogar etwas weniger sein. Mehr Disziplin müsse nun auch europaweit im Vordergrund stehen, forderte der FDP-Politiker jüngst. Die alten Schuldenregeln seien nicht präzise genug und auch nicht mehr realistisch.

Auf glaubwürdige Regeln pochen auch Investoren an den Finanzmärkten - und auch deren Erfüllung. Es würden nicht genügend Reformen umgesetzt, warnt OECD-Chefökonomin Clare Lombardelli. Verzögerungen würden die Fähigkeit der Regierungen beeinträchtigen, künftige Schocks zu bewältigen. LBBW-Chefvolkswirt Moritz Kraemer sieht dunkle Wolken am Horizont: «Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir im nächsten Jahrzehnt eine Krise erleben.»

(Reuters)