Schon viele Bundesregierungen haben gerne mit dem Finger auf Karlsruhe gezeigt, wenn es um die Frage ging, ob Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sich gemeinsam verschulden sollten. Da sei nun einmal das Bundesverfassungsgericht voran, sagen die Deutschen gerne — sowohl öffentlich als auch hinter vorgehaltener Hand.

Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine hat die Aufmerksamkeit des europäischen Spitzenpersonals auf das wohl drängendste — und teuerste — Problem der EU gelenkt. Um Russland abzuschrecken, müsse militärisch geklotzt werden, und laut Kaja Kallas, der designierten EU-Aussenbeauftragten, werde das mindestens 100 Milliarden Euro verschlingen.

Die Rechnung für ein militärisch starkes Europa könnte zwei- oder dreimal so hoch ausfallen, so ein hochrangiger Offizieller aus der europäischen Verteidigungsszene, der nicht namentlich genannt werden wollte.

In Berlin schiebt man den Schwarzen Peter gerne den Menschen in den roten Roben zu. Erst im November hatte das Gericht mit seinem Haushaltsurteil erneut Schockwellen durch Wirtschaft und Politik geschickt.

Sollte Donald Trump — der lautstark kritisiert, dass sich die Europäer allzu gerne auf die USA verlassen — die Wahlen im November gewinnen, grenze es an gefährliche Gleichgültigkeit, wenn sich die EU weiterhin weigere, besser für ihre eigene Verteidigung zu sorgen, so Moritz Schularick, Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft.

Europa schlecht vorbereitet

„Die deutsche Haushaltspolitik ist derzeit ein Sicherheitsrisiko für Europa«, so Schularick. Dass Europa schlecht vorbereitet ist, wurde mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine offenkundig. Während die Staaten ihre individuelle Verteidigung im Eiltempo ausbauen, stossen Vorschläge für ein gemeinschaftliches Vorgehen auf wenig Gegenliebe — obwohl einiges auf dem Spiel steht.

In Deutschland geht es aber nicht nur um die Rolle des Karlsruher Gerichts. „Beim Zögern des Bundeskanzlers und der Koalitionäre spielen sicher nicht nur juristische Bedenken, sondern auch parteipolitische Erwägungen eine Rolle«, so Schularick.

Bundesfinanzminister Christian Lindner ist selbst ein entschiedener Gegner von Gemeinschaftsschulden. Und zumindest in dieser Frage scheinen er und sein Koalitionspartner Olaf Scholz einer Meinung zu sein.

In der Abschlusspressekonferenz nach dem Europäischen Rat im Juni sagte der Bundeskanzler: »Möchte ich akzeptieren, dass wir Sovereign Bonds, also Eurobonds zur Rüstungsfinanzierung machen? Antwort: nein.«

Dünnes Eis

Zwar sagte der spanische Wirtschaftsminister Carlos Cuerpo Anfang des Jahres gegenüber Bloomberg, dass die EU in der Lage sein sollte, einen Mechanismus zu finden, der für das Verfassungsgericht akzeptabel ist. Deutsche Rechtsexperten sind sich da nicht so sicher.

Bei der ersten Sitzung des neu konstituierten Europaparlaments in Strassburg vergangene Woche wurde abermals die Frage aufgeworfen, ob das höchste deutsche Gericht zum Mitmachen zu bewegen sei. Und Polen, das eine der höchsten Verteidigungslasten im Club der EU-Mitglieder schultert, will die gemeinsame Kreditaufnahme auf die Tagesordnung setzen, wenn es im Januar die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernimmt

„Ich wäre vorsichtig mit irgendwelchen Prognosen, wie das Bundesverfassungsgericht diesen Fall beurteilen würde», sagte  Cornelia Manger-Nestler, Rechtsprofessorin an der HTWK Leipzig. «Mit Blick auf die Verteidigung haben wir nur sehr vage Kompetenzen auf Unionsebene». Dies sei alles «sehr dünn, und das dürfte das Bundesverfassungsgericht auch so sehen.»

Das Bundesverfassungsgericht hat eine lange Rechtsprechungstradition zur Frage, ob und wie sich Deutschland an internationale Finanzmassnahmen beteiligen darf. Während der Finanzkrise landete fast jedes Paket zur Rettung des Euro vor den Richtern.

Die Regierung gewann zwar formal alle dieses Verfahren, in den Urteilsgründen zogen die Richter aber vielfach rote Linien und erweiterten die Mitspracherechte des Bundestags. Diese Urteile gingen als „Ja, aber«-Entscheidungen in die Geschichte ein.

Präzedenzfall für einen europäischen Verteidigungstopf ist der 800 Milliarden Euro schwere EU-Pandemiefonds. Doch der stütze sich auf eine Ermächtigungsgrundlage für naturkatastrophenähnliche Notfälle. Die sei ungeeignet für Fragen der europäischen Sicherheit, so Manger-Nestler.

Sie und der Verfassungsrechtler Alexander Thiele, der an der BSP Business and Law School in Berlin lehrt, sehen beide eher die industriepolitische Kompetenz der EU als Grundlage, hier verfüge Brüssel über eine klarere Zuständigkeit. Die Union könnte etwa beschliessen, eine europäische Verteidigungsindustrie aufzubauen. Unumstritten wäre dieser Ansatz aber auch nicht.

Und beide sagen, das sei nur die halbe Miete. Die industriepolitische Befugnis besage lediglich, das die EU hierfür Geld ausgeben darf. Die Frage, woher sie die Mittel dafür hernimmt, sei ein separates Thema.

„Die Verschuldungsfähigkeit der EU ist hochumstritten, weil sich in den Verträgen keine ausdrückliche Kompetenz findet, die es erlaubt, Schulden aufzunehmen», so Thiele. «Insofern muss man die Zulässigkeit einer Schuldenaufnahme stets im Einzelfall begründen.»

Schon das Verfassungsgerichtsurteil von 2022, das Deutschland am Ende erlaubte, sich am Next Generation EU-Pandemiefonds zu beteiligen, habe die Richter hart an die Grenzen gebracht, so Thiele. Ein Jahr später kam dann der Paukenschlag aus Karlsruhe, als das Gericht den Klima- und Transformationsfonds kippte, weil er gegen die Schuldenbremse im Grundgesetz verstosse — ein Verfahren, in dem Thiele die Bundesregierung erfolglos verteidigte.

Das Urteil zeige, dass die Richter zu einer restriktiveren Sichtweise der Haushaltsregeln tendierten, so der Jura-Professor.

«Es war ja schon beim NGEU wackelig», sagte Thiele. «Da besteht schon die Gefahr, dass das Verfassungsgericht sagt: Moment mal, ihr könnt nicht alle paar Jahre bei den Einnahmen die Verschuldung ausweiten.»

«Juristischer Trick»

Matthias Ruffert, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, hat den juristischen «Trick» beim Pandemiefonds kritisiert, der im Wesentlichen darin bestand, Darlehen als eine weitere Form von EU-Eigenmitteln zu deklarieren. Mittlerweile hält er jedoch Widerstand für zwecklos.

«Das Bundesverfassungsgericht hat nun einmal entschieden, dass es geht, solange die Mittel den EU-Haushalt im mehrjährigen Finanzrahmen nicht überschreiten», sagte Ruffert. “Betrachtet man diese Siebenjahresplanung, die 2028 endet, dann ist noch Luft nach oben — 100 Milliarden Euro würden das nicht sprengen.»

Allerdings müssten alle Mitgliedstaaten das Vorhaben dann ratifizieren, was zu lange dauern könnte, um schwere Rückschläge für die Ukraine im Krieg mit Russland zu verhindern. Mit anderen Finanzierungsmechanismen, die nicht auf Schulden beruhen, ginge es laut Ruffert schneller: etwa die Europäische Friedensfazilität, ein Instrument, in das die Mitgliedstaaten direkt Geld einzahlen.

Mit diesem Ansatz könnte vielleicht auch Bundesfinanzminister Lindner leben, der sich sowohl aus politischen als auch aus rechtlichen Gründen gegen eine gemeinsame Verschuldung ausgesprochen hat.

«Eine Vergemeinschaftung von Haftung und von Verschuldung trägt nicht zur Stabilität bei und wird deshalb von Deutschland auch nicht unterstützt werden», erklärte der FDP-Chef bei einem EU-Finanzministertreffen in Brüssel in der vergangenen Woche.

Seine europäischen Kollegen geben aber nicht klein bei. Bei eben jenem Treffen sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni: «Wir müssen eine Diskussion über die Möglichkeit neuer gemeinsamer Instrumente und gemeinsamer Finanzierung beginnen. Und das bedeutet, dass wir Mittel auf den Finanzmärkten aufnehmen müssen.»

(Bloomberg)