Jeder, der schon mal naiv genug war, eine Royal Oak, eine Nautilus oder Submariner direkt im Laden kaufen zu wollen, weiss zu den Wartelisten zig Geschichten zu erzählen. Es gibt zig Gerüchte und Mythen, wie man es an die Spitze der Listen schafft. Ihr Tenor: Man müsse beim Uhrenhändler eben erst Hunderttausende von Franken oder Dollar ausgeben, bevor man sich überhaupt für eine der Uhren qualifiziere, die man eigentlich haben möchte. Die Details hüten die Marken und ihre offiziellen Händler wie die Geheimdienste ihre Spionageergebnisse.
Doch nun hat einer der wichtigsten Uhrenhändler der Welt, das Familienunternehmen Seddiqi aus Dubai, gegenüber Bloomberg aus dem Nähkästchen geplaudert. Mohammed Abdulmagied Seddiqi, Chief Commercial Officer der Seddiqi Holding, sagt unumwunden, dass das Unternehmen Listen führe mit Kunden, die bestimmte Uhren – natürlich: die Trophäen, die alle haben wollen – bekommen würden. Und es führe Listen mit Kunden, die solche Uhren niemals erhalten würden.
Bei Patek stehen 30 Leute auf der Warteliste, bei Rolex ist bei 4000 Schluss
Bei Seddiqi sei die Warteliste für Rolex-Modelle auf je 4000 Personen begrenzt. Bei Patek Philippe aber würden bei Seddiqi bloss 20 bis 30 Kundinnen und Kunden auf der Warteliste stehen. Mit anderen Worten: Die Warteliste für Rolex-Uhren ist also bis zu 200-mal länger als jene für eine Patek. Bei anderen Händlern dürften die Verhältnisse ähnlich sein.
Sobald Seddiqi tatsächlich eine Uhr zum Verkauf verfügbar habe, werde sie den Kundinnen und Kunden – teilweise auf der Grundlage ihrer früheren Kaufgewohnheiten – angeboten. "Wir müssen den Kunden gegenüber fair sein und sicherstellen, dass wir die Uhren den richtigen Leuten anbieten", so Seddiqi weiter.
Und wenn ein Scheich oder ein Mitglied der königlichen Familie der Emirate eine Rolex haben möchte? Seddiqi gibt sich diplomatisch: "Wenn ein König eine Uhr für den persönlichen Gebrauch will, bekommt er sie auch. Wenn er jedoch Uhren zum Verschenken sucht – an Würdenträger, vielleicht an Könige aus anderen Ländern –, sind wir wählerischer."
Uhren-"Flipper": Ein schöner Gewinn und dann der Bann
Klar ist bei Seddiqi und anderswo: Jeder, der seine eben erstandene Rolex, Patek oder AP gleich weiterverkauft – und dabei einen schönen Gewinn einstreicht –, wird sofort von allen Wartelisten verbannt und wird wohl nie wieder eine Uhr bei einem offiziellen Händler kaufen können. Wie aber enttarnt Seddiqi diese sogenannten Flipper? Genaues verrät Mohammed Seddiqi natürlich nicht. Er sagt bloss: "Ich habe im Laufe meiner jahrzehntelangen Tätigkeit in diesem Geschäft genug Kontakte geknüpft zu Leuten, die mich über Flipper informieren."
Seddiqi betreibt in der Dubai Mall, einem der weltgrössten Einkaufszentren, die grösste Rolex-Boutique der Welt. Das Unternehmen, 1960 gegründet, ist der einzige autorisierte Rolex-Händler in den Emiraten und verfügt über ein Ladennetz von rund fünfzig Standorten.
Die Nachfrage nach Schweizer Luxusuhren kann Seddiqi kaum decken: Erstens, weil die Uhrenexporte weiter steigen. Zweitens, weil die Einheimischen und die Touristen in Dubai besonders heiss sind auf Schweizer Uhren. Die Emirate sind mit gerade mal 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern der neuntgrösste Markt für die Branche. "Wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir eine Uhr zur Verfügung haben und einen Kunden anrufen und sagen, dass wir eine Uhr haben, und er sagt: Ja, ich komme", sagt Seddiqi. "Die Kunden fragen nicht einmal, welches Modell. Was immer wir haben, sie nehmen es."
"Es geht darum, heiss zu sein"
"Vor einer Woche war ich bei einem Kunden, der eine Rolex Daytona trug und nicht wusste, welche Funktion die Uhr hatte", erzählt Seddiqi weiter. «Es geht nicht um Funktionalität, sondern darum, heiss zu sein. Das ist der einzige Grund, warum sie Uhren wollen.»
Eine Daytona ist ein Chronograph, der die normale Zeitanzeige mit einer Stoppuhr kombiniert. Sie ist eines der begehrtesten Modelle auf dem Secondhand-Markt.
Um die Uhrenkäufer, die keine Ahnung von Uhren haben, zu wahren Uhrenliebhabern zu machen, hat sich Seddiqi eine Art Bildungsauftrag gegeben. Die zweite Etage des dreistöckigen Rolex-Geschäfts in der Dubai Mall soll zu einem Ort werden, an dem die Kundschaft mehr über die Uhrmacherei erfahren kann. Das Unternehmen werde Uhrmacher einfliegen lassen, um Uhren zu öffnen, Vorführungen zu machen und Aspekte wie die technische Bewegung der Zahnräder zu erklären, sagt er. Auf diese Weise, so Seddiqi, könnten die Kunden verstehen, warum es so lange dauert, bis sie eine Uhr in Händen halten.
Warten und lernen
Kürzlich flog das Unternehmen einige treue Kunden in die Schweiz, um Uhrmacher in Aktion zu erleben. "Sie kamen zurück und sagten: Wenn ihr uns jetzt keine Uhren geben könnt, verstehen wir, warum", erzählt Seddiqi.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Handelszeitung unter folgendem Titel: "Wartelisten für Rolex sind 200-mal länger als für Patek Philippe"