cash.ch: Herr Oetterli, Sie sind seit Mitte März CEO bei Rieter. Warum sind Sie diesen neuen Job angetreten?

Thomas Oetterli: Wenn man von aussen auf Rieter schaut, gibt es ein paar schlagende Argumente für das Unternehmen. Es hat über 200 Jahre Unternehmensgeschichte. Die ganze Textilmaschinenindustrie hat ihre Ursprünge in der Ostschweiz. Am Geburtsort einer ganzen Industrie zu sein, hat mir imponiert. Zudem hat Rieter einen sehr starken Brand. Den Namen kennt jeder Schweizer. Rieter ist Weltmarktführer und hat eine Technologieführerschaft. 

Was fasziniert Sie an der Technologie?

Die ganze Textilmaschinenindustrie ist einerseits massiv bei der Maschine, aber gleichzeitig filigran bei der Technologie. Bei einem Auto geht ein Turbomotor auf bis zu 8000 Umdrehungen pro Minute, unsere Ringspinnmaschinen kommen auf bis zu 30’000.

Das sind die guten Seiten. Wo ist der Lack ab?

Rieter hat in den letzten Jahren finanziell nicht so performt, wie man das von einem Technologie- und Weltmarktführer erwarten dürfte. Das will ich mit meinem Team verändern. Wir haben alle Zutaten, die es für den Erfolg braucht. Wir müssen als Koch nur das richtige Rezept zusammenstellen und dies befolgen.

Warum ist ein Unternehmen erfolgreich?

Der Erfolg von Unternehmen ist nur zu 10 Prozent von der Strategie abhängig. 90 Prozent von der operativen Ausführung. Dort kann ich einen positiven Beitrag leisten.

Was ist das richtige Rezept?

Das zu behalten, was gut ist. Wir haben viele gute Mitarbeiter. Technologien, welche die Maschinen im Zusammenspiel mit natürlichen Fasern verstehen. Wir hatten aber in der Vergangenheit kein genügendes Kostenbewusstsein. Zudem dominierte früher im Textilmaschinenmarkt Europa. Heute sind unsere Märkte im Osten. Wir müssen unsere Organisationen in den Hauptabsatzmärkten Türkei, Indien, China und Südostasien stärken und internationaler werden, ohne dass wir unsere Schweizer Wurzeln verlieren. Wir haben noch nicht die richtige Balance zwischen lokalen Entscheidungskompetenzen und globalen Rahmenbedingungen aus Winterthur kommend.

Es ist eine Frage der Unternehmenskultur…

Ja. Man muss das Beste aus zwei Welten zusammenbringen. Von der Mitarbeiteranzahl sind unsere grössten Organisationen in Indien und China. Weiss nicht die indische Organisation besser, was der Kunde vor Ort benötigt? Das bedingt eine offene Gesprächskultur. Wir müssen uns mehr dezentralisieren.

Gerade für exportorientierte Schweizer Unternehmen stellt der starke Franken vielfach auch ein Problem dar. Wie können Sie dieses Problem erfolgreich umgehen?

Wir haben den Vorteil, dass wir bereits heute eine dezentrale Produktionsorganisation haben. Mit der lokalen Produktion und Lieferantenbasis haben wir diese Währungsverwerfungen nicht. Aber es ist schon so, dass wir immer noch eine sehr starke Präsenz in der Schweiz haben. Unter dem Transformationsprojekt ‹Next Level› sind wir auch dieses Thema angegangen. Brauchen wir alle zentralen Positionen hier in der Schweiz und in Deutschland oder sollten wir einen Teil zumindest in unsere Absatzmärkte verschieben? Damit werden wir ein natürliches Währungs-Hedging erreichen.

Die Aktien verloren 2023 bislang 19 Prozent. Was sind die Gründe für die anhaltende Kursschwäche an der Börse?

Wir haben in den letzten Jahren Vertrauen verloren. Dieses müssen wir uns wieder erarbeiten. Nur weil wir etwas proklamieren, heisst dies noch nichts. Wir müssen erst einmal das Versprochene abliefern. Wenn wir eine Zuverlässigkeit generieren können, dann wird sich das mit einem grösseren Vertrauen in unsere zukünftigen Resultate im Aktienkurs widerspiegeln.

Sie haben im ersten Semester deutlich weniger Aufträge an Land gezogen als im Vorjahreszeitraum. Wie weit ist die zyklische Marktabschwächung fortgeschritten?

Die globale Textilnachfrage hat sich noch nicht wesentlich gesteigert. Wenn Unsicherheit in der Bevölkerung herrscht, dann wird bei dem gespart, was nicht wehtut. Wenn Sie in Ihren Schrank hineinschauen, ist es kein Problem, ein Jahr keine Kleider zu kaufen. Dieses Umfeld herrscht seit Mitte des letzten Jahres vor. Wenn weniger Kleider nachgefragt werden, wird weniger Stoff produziert. Wenn weniger Stoff produziert wird, dann wird weniger Garn produziert. Dann ist auch die Investitionsfreudigkeit der Spinnereien tiefer. 

Wie lange dauert ein solcher Zyklus?

Ein Zyklus in unserer Industrie dauert drei bis fünf Jahre. Seit anderthalb Jahren befinden wir uns im tieferen Bereich, was die Auftragseingänge betrifft. Wir wissen, dass es wieder anziehen wird. Wir wissen aber nicht wann.

Ist der Tiefpunkt schon erreicht?

Wir glauben, dass der Tiefpunkt erreicht ist. Ob es im vierten Quartal wieder anzieht oder erst im ersten Quartal 2024, können wir nicht sagen.

Was sagen Ihre Frühindikatoren?

Unsere Kunden sind sehr unsicher, ob die Nachfrage schon bald wieder anzieht. Alle bereiten sich aber für diesen Zeitpunkt vor. Wir haben viele Projekte, wo wir auf die Startfreigabe warten.

Wie bereiten Sie sich auf diese Welle an Aufträgen vor?

In der letzten Hochphase im Jahr 2021 und Anfang 2022 haben wir die Herausforderung unterschätzt, den hohen Auftragseingang abzuwickeln. Man muss die vorgelagerte Lieferkette auf diesen Zeitpunkt vorbereiten und den Verkauf besser planen. Auch die eigenen Strukturen müssen dafür angepasst werden. Jetzt mit dem Programm ‹Next Level› gehen wir bei der Produktion auf ein Minimum herab, das wir brauchen. In der Hochphase werden wir flexibel die Kapazitäten ausbauen.

Sie sprechen den Einkauf an. Dieser hatte in den letzten Jahren grosse Herausforderungen mit den gestiegenen Materialpreisen...

Bei den Materialkosten gab es zumindest keine Steigerungen mehr. Elektronische Komponenten sind jedoch immer noch knapp. Ein professionellerer Einkauf wurde eingeführt, was ein besseres Kostenmanagement mit sich bringen soll. Ein anderes Thema ist die fortschreitende Inflation und die daraus folgenden Gehaltserhöhungen.

Wie begegnet Rieter dieser Problematik?

Dieser muss man mit Produktivitätssteigerungen begegnen. Mit Automatisierung und Digitalisierung kann man zumindest einen Teil kompensieren. Einfacher ist es natürlich mit einem Wachstum, wo man auf die gleiche Anzahl Schultern mehr verteilen kann. Wenn man dies nicht macht, braucht es einen Personalabbau.

Sie drücken beim Personal auf die Sparbremse und streichen rund 300 Stellen primär an den Standorten Winterthur und Deutschland. Braucht es noch mehr?

Mit dem Programm ‹Next Level› haben wir auf ein Niveau eingestellt, was einem ‹niedrigen› Szenario entspricht. Die Kostensteigerungen versuchen wir zudem auch durch die Weitergabe von Preisen zu begegnen. Die Gehälterinflation ist für mich zukünftig das grössere Sorgenkind als die Materialkosteninflation.

Hat sich die Lage im wichtigen Absatzland Türkei nach den Zerstörungen durch das Erdbeben im Februar beruhigt?

Der 6. Februar war ein tragischer Moment. Die Hauptkundenbasis lag direkt im Erdbebengebiet. Fabriken wurden zerstört und viele Menschen sind in der Folge abgewandert. Als man die Spinnereien wiedereröffnet hat, fand man fast keine Mitarbeiter. Zusätzlich hat die Türkei als Exportland nach Europa wegen der dortigen schlechteren Konsumentenstimmung gelitten. Die Türkei ist aber gewohnt, mit solchen Turbulenzen umzugehen und ich habe keine Bedenken, dass der Markt für uns wieder zurückkommt.

Beim Ausblick gingen Sie bei den Halbjahreszahlen für das Gesamtjahr von einem Umsatz auf Vorjahreshöhe (gut 1,5 Milliarden Franken) und einer EBIT-Marge von 5 bis 7 Prozent aus. Erreichen Sie diese Zielsetzung?

Sicherlich ist wegen der Marktlage das eine oder andere Projekt unserer Kunden verzögert. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es aber keinen Grund, von dieser Guidance abzuweichen. 

Der Auftragsbestand habe sich seit Ende des ersten Semesters 2022 auf 1,1 Milliarden Franken fast halbiert. Dies werde kaum ausreichen, um in den nächsten ein bis zwei Jahren einen genügend hohen Umsatz zu erzielen beziehungsweise die Betriebskosten zu decken, meinen kritische Marktstimmen. Was entgegnen Sie?

Unsere Herausforderung ist der Auftragseingang. Jeder kann sehen, dass wir zurzeit zu wenig neue Aufträge generieren, um das Umsatzniveau auf dem aktuellen Niveau zu halten. Wir werden das beim Umsatzspüren. Doch mit dem Programm ‹Next Level› haben wir uns auf ein tieferes Niveau eingestellt.

Könnte das Niveau aber noch tiefer sein?

Ja. Aber wir sind seit über 200 Jahren in diesem Markt. Wir werden nicht unsere Strategie ändern wegen einem Quartal, das noch herausfordernder sein wird. Bis Ende Jahr haben wir das richtige Niveau unserer Kostenstruktur erreicht. Das ist das richtige Korsett für ein schwieriges und herausforderndes Jahr 2024. Wir wollen auch in einem schwierigen Jahr einen positiven Beitrag auf der Stufe Ebit erreichen. Hier weichen wir nicht ab.

Mit welchen Massnahmen werden Sie die Profitabilität mittelfristig nachhaltig verbessern?

Wir müssen unser After Sales- und Komponentengeschäft pushen, welches weniger zyklisch ist und tendenziell eine höhere Marge hat. Wir haben in einem Jahr wie 2023 rund 70 Prozent Neumaschinengeschäft und nur rund 30 Prozent After Sales. Im Idealfall haben wir ein ausgeglichenes Verhältnis.

Das klingt einfach. Wie wollen Sie dieses Geschäft pushen?

Es gibt tausende Maschinen von Rieter weltweit, die teilweise 20 Jahre alt sind. Gewisse Reparaturen müssen gemacht werden, damit diese produktiv bleiben. Wir wollen dies für unsere Kunden mit einem professionellen Vertriebsmanagement vermehrt machen.

Die Nettoverschuldung lag Ende 2022 bei 286 Millionen Franken und ist damit gegenüber den Vorjahren deutlich angestiegen. Wann und wie wird diese zukünftig tiefer?

Aufgrund von Akquisitionstätigkeiten ist diese gestiegen. Dies ist kein Zustand, den wir haben wollen. Wir haben auch eine tiefe Eigenkapitalquote von 23 Prozent. Wir wollen diese möglichst schnell auf über 35 Prozent bringen. Ein Zahlungsproblem ist ja nicht unser Thema, aber man fühlt sich wohler bei einem positiven Betrag in der Kasse.

Wie soll dies gelingen?

Es ist für uns das oberste Mantra, dass wir jedes Jahr Gewinn machen. Im Juli haben wir zudem den Verkauf des Rieter-Areals unterzeichnet, was uns dieses Jahr sehr viel Cash bringt. Dies hilft beim Eigenkapital, aber auch die zusätzlichen Kosten für das Transformationsprogramm zu stemmen. Auch können wir durch den Abbau von Nettoumlaufvermögen, das in den vergangenen Jahren durch Lageraufbau entstanden ist, mehr Cash der Bilanz zuführen. Dies alles wird uns ermöglichen, die Nettoverschuldung bereits dieses Jahr massiv zu reduzieren.

Von den Aktionären braucht es zukünftig daher nicht mehr Geld?

Wenn man in eine Firma investiert, will man eine Rendite daraus erzielen. Ein Teil davon ist eine Dividende. Auch dort ist das Thema Zuverlässigkeit ein wichtiges Element für einen Investor. Wir wollen hier zukünftig beständiger und nachhaltiger sein. Vom Nettogewinn sollen mindestens 40 Prozent an die Aktionäre ausgeschüttet werden.

Dies wird sicher auch ihren Ankeraktionär Peter Spuhler freuen...

Dies gilt sowohl für den Ankeraktionär als auch den Kleinaktionär. Als ich zu Rieter gekommen bin, habe ich zuallererst Aktien gekauft. Ich habe investiert, weil ich an Rieter glaube.

Oliver Streuli wurde per 1. August neuer Finanzchef. Er war zuletzt für Grossaktionär Peter Spuhler tätig, der seinen Anteil zuletzt auf 33 Prozent ausgebaut hat. Wie äussert sich der Einfluss von Spuhler sonst noch?

Eines ist wichtig: Der neue Finanzchef hat einen ganz normalen Bewerbungs- und Selektionsprozess durchgemacht. Und er war am Ende der beste Kandidat. Aber natürlich haben wir ein sehr starkes Ankeraktionariat, was ich sehr positiv sehe. Dieses gibt dem Unternehmen und dem Management eine Langfristperspektive. Zudem kann man von einer sehr grossen unternehmerischen Erfahrung profitieren.

Rieter-CEO Thomas Oetterli (1969) war viele Jahre für den Aufzugskonzern Schindler tätig. Zuletzt von 2016 bis Januar 2022 als CEO. Seit 2011 ist Oetterli auch Teil des Verwaltungsrats von SFS, seit 2022 amtiert er als Präsident.

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