cash.ch: Sie haben einen interessanten Twitter-Feed. Ist Twitter ein Muss für jeden Ökonomen, Analysten und Anleger?

Frederik Ducrozet: Die Vorteile von Twitter liegen auf der Hand. Dank der Geschwindigkeit dieser Plattform sind alle Marktteilnehmer sofort informiert und auf dem neuesten Stand. Ich finde das wichtig, denn früher mussten alle viel länger warten, bis die Informationen verfügbar waren.

Obwohl alle die gleichen Informationen haben, können Wirtschaftsdaten immer noch sehr überraschen. Waren Sie über die Stärke der jüngsten US-Arbeitsmarktdaten erstaunt?

Im Zuge der Corona-Pandemie und der derzeit wohl anstehenden Normalisierung stelle ich rückblickend fest, dass die letzten drei Jahren alles andere als einfach zu prognostizieren waren. Da kam viel unbekanntes und überraschendes zusammen. Entsprechend sind wir im Moment einfach etwas bescheidener bei der Aussagekraft unserer Prognosen.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie waren ein aussergewöhnliches Ereignis. Wie schnell normalisiert sich die Lage nun?

Das Umfeld ist sehr unsicher und wir haben keine Kristallkugel. Wir als Bank fokussieren deshalb noch stärker darauf, wie wir Informationen und Daten analysieren, was wir aus diesen Daten machen und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Damit generieren wir Mehrwert für unsere Kunden. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir zum Beispiel die Zentralbanken: Jeden Tag spricht ein Vertreter der europäischen Zentralbank eine Flut an Informationen. Das ist aber nur die halbe Geschichte. Es hat interessanterweise auch eine 'persönliche' Dimension. Isabel Schnabel (Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, Anm. der Redaktion) hat seit einiger Zeit einen höheren Einfluss innerhalb der EZB als deren Chefökonom Philip Lane. Das Gewicht von EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat ebenfalls zugenommen. Und um die Arbeitsmarktdaten und Zinsentscheidungen zurückzukommen, es gab jüngst keine Überraschungen. Was für uns diesbezüglich zählt, sind die Aussagen von Lagarde und Jerome Powell, dem Präsidenten der amerikanischen Notenbank Fed. Diese sind weiterhin falkenhaft und deuten auf weitere Zinserhöhungen hin. 

Wie weit werden die Zinsen noch ansteigen?

Das Fed dürfte die Zinsen bis im Mai von 4,50 Prozent auf rund 5,00 bis 5,25 Prozent anheben. Die EZB dürfte den höchsten Satz bei 3,50 Prozent (aktuell 2,50 Prozent) erreichen und die Schweizerische Nationalbank im März 2023 50 Basispunkte auf 1,50 Prozent erhöhen. Damit dürfte der Zinserhöhungszyklus bei diesen drei Notenbanken abgeschlossen sein.  

Powell hat letzte Woche das Wort Deflation ausgesprochen. Da scheinen Zinssenkungen eher angebracht?

Es ist kein Wunder, dass die Märkte auf diese Aussage positiv reagiert haben. Wir denken aber, dass der US-Aktienmarkt zu optimistisch ist. Wir sehen im Moment auch keinen Raum für mögliche Zinssenkungen in diesem Jahr. Es bleibt deshalb wichtig, zwischen dem effektiven Entscheid mit allen Hintergrundinformationen und der Marktreaktion zu unterscheiden.  

Trotzdem ist denkbar, dass die USA in eine Rezession geraten. Ist das ein realistisches Szenario?

Eine Rezession kann nicht ausgeschlossen werden, aber wenn sie eintritt, wird sie wahrscheinlich eher flach ausfallen. Dadurch gehen wir aber auch nicht davon aus, dass die Zinsen selbst im Falle einer US-Rezession wieder auf ein ultratiefes Niveau von 1 Prozent oder gar Richtung null sinken werden.   

Was heisst das für die Aktienmärkte?

Grundsätzlich sind wir bei US-Aktien defensiv aufgestellt und nicht sehr optimistisch. Die Unternehmensgewinnen im Bereich Technologie und bei den zyklischen Aktien sind rückläufig. Sie sinken langsam und haben den Boden noch nicht erreicht. Auf der anderen Seite steht die Bewertung. Diese sind nach der jüngsten Rally wieder angestiegen sind. Das haben wir nicht erwartet. 

Also haben die US-Börsen die Talsohle noch nicht erreicht?

Wir gehen davon aus, dass die Bewertungen wieder zu hoch sind und die US-Börsen erneut nach unten korrigieren. Allerdings muss ich einschränkend anfügen, dass, wenn alle das gleiche erwarten, dies logischerweise nicht eintreffen muss. Aber aus fundamentaler Sicht bleiben wir bei US-Aktien untergewichtet.     

Sind die anderen Aktienmärkte auch zu teuer?

Nein, durchaus nicht. Wir fokussieren uns auf Japan, England, die Schweiz und europäische Aktien. In diesen Märkten sind wir nicht untergewichtet. Da sehen wir Potenzial. Fundamental betrachtet sollten die Risikoprämien zwischen den USA und Europa weiter schrumpfen, was europäische Aktien attraktiver macht. Wir sind auch der Meinung, dass Unternehmensanleihen aus Europa und den Schwellenländern Potenzial haben.

Wie sieht es bei Schweizer Obligationen aus?

Die Renditen von Schweizer Anleihen sind weniger attraktiv. Es ist das Schicksal der Schweizer Anleger, dass der Schweizer Anleihenmarkt sehr wenig hergibt auf realer Basis, obwohl wir letztendlich höhere Renditen sehen könnten.

Was kann ich als Anleger dagegen tun?

Nebst dem Fokus auf die vorhin erwähnten Aktienmärkte, die wir im Moment favorisieren, hilft nur eine Diversifikation in Alternative Anlageklassen. Dabei handelt es sich nicht nur um Venture Capital für junge Firmen. Wir empfehlen, Alternative Anlagen wie Hedge Fonds, Venture Capital Fonds oder zum Beispiel Investitionen in Private Equity Vehikel mit Immobilien zu tätigen. Diese Anlagen sollten langfristig im Vergleich eine 3 Prozent höhere Rendite als andere Anlageklassen abwerfen. 

Sie favorisieren hauptsächlich Aktien in Europa. Die Wirtschaft in Europa steht auf wackligen Beinen. Ist es überhaupt sinnvoll, auf den alten Kontinent zu setzen?

Ich wurde in der Vergangenheit schon dafür kritisiert, zu optimistisch für die Eurozone zu sein. Die aktuelle Lage bestärkt mich darin, denn in Europa ist es in den letzten Jahren definitiv besser geworden. So ist die öffentliche Verschuldung in den letzten drei Quartalen gesunken und ich betrachte die alarmierenden Stimmen zu Italien als übertrieben. Die Situation dort ist besser als befürchtet. Ebenso hat die Glaubwürdigkeit der EZB zugenommen und die Zentralbank verfügt über Instrumente, um ein Auseinanderbrechen der Eurozone zu vermeiden.

Die Konjunkturdaten in Europa sind enttäuschend. Hat dies nicht einen negativeren Einfluss?

Die Situation ist tatsächlich eine Herausforderung. Der Konsum war extrem schwach, nicht nur in Deutschland und Frankreich. Im Gegensatz zu den USA, wo wir den Zusammenhang zwischen schwachem Konsum und dem sehr robusten Arbeitsmarkt noch nicht ganz verstehen, ist die Situation in Europa klar. Wir erleben mit dem Ukraine-Krieg derzeit den grössten Einkommensschock seit dem Zweiten Weltkrieg. Würde die Wirtschaft in Europa keine Schwäche zeigen, dann würde etwas nicht stimmen. 

Deutet die schwache Nachfrage nach Hypotheken und Unternehmenskrediten nicht darauf hin, dass Europa in diesem Jahr in eine Rezession abdriftet?

Nicht so schnell. Klar sehen wir, dass die Nachfrage nach Hypotheken und Bankkrediten bei Unternehmen im letzten Jahr stark abgenommen hat. EZB-Präsidentin Lagarde dürfte damit aber zufrieden sein. Es ist genau das, was die EZB anstrebt. Nur mit einer sich abschwächenden Nachfrage sinkt die Inflation. 

Wird das Wirtschaftswachstum in den USA und Europa 2024 wieder anziehen, wenn es jetzt zu keiner Rezession kommt?

Die amerikanische Wirtschaft zeigt sich bisher sehr robust. Die US-Konsumenten geben das Ersparte aus der Corona-Zeit aus, beanspruchen die Kreditkarte immer mehr und die Kosten für die Hypotheken sind stark gestiegen. Insofern ist es logisch, dass sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt. Aber auch hier gilt, dass es zu früh ist, um eine genaue Prognose abzugeben. Offen ist diesbezüglich auch die Frage, wie Europa den nächsten Winter ohne russisches Gas meistern kann.

Frederik Ducrozet ist seit 2022 Leiter Markoökonomisches Research bei Pictet Wealth Management in Genf. Von 2015 bis 2022 war er bei Pictet Wealth Management als Senior Economist für Europa zuständig.

Thomas Daniel Marti
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