Die Entwicklung neuer Medikament ist riskant, teuer und langwierig. Grosse Pharmakonzerne setzen deshalb zunehmend auf Künstliche Intelligenz (KI), um schneller Patienten für klinische Studien zu finden oder die Zahl der Probanden zu verringern. Sie hoffen, so die Medikamentenentwicklung zu beschleunigen und viel Geld zu sparen.

Denn Studien mit neuen Arzneien am Menschen sind der teuerste und zeitaufwendigste Teil der Entwicklung, da es Jahre dauern kann, Patienten zu rekrutieren und die neuen Medikamente zu testen. Über eine Milliarde Dollar Kosten können sich so von der Entdeckung eines Medikaments bis zur Markteinführung anhäufen.

Pharmaunternehmen experimentieren deshalb schon seit Jahren mit KI. Bei klinischen Studien spielen die neuen Technologien eine immer grössere Rolle, wie Gespräche der Nachrichtenagentur Reuters mit mehr als einem Dutzend Führungskräften von Pharmakonzernen, Arzneimittelbehörden, Gesundheitsexperten und KI-Firmen ergaben.

Nach Angaben von Blythe Adamson, leitende Wissenschaftlerin bei der Roche-Datenanalysetochter Flatiron, dauert es normalerweise Monate, die Daten von 5000 Patienten mit traditionellen Methoden durchzuforsten: «Jetzt gewinnen wir die gleichen Erkenntnisse für Millionen Patienten in wenigen Tagen.»

Unternehmen wie Bayer, Novartis oder Amgen aus den USA trainieren KI, um Milliarden von öffentlichen Gesundheitsakten, Verschreibungsdaten oder auch Krankenversicherungsansprüchen auf der Suche nach Studienteilnehmern zu durchforsten. «Ich glaube nicht, dass das schon überall angewendet wird», sagt Jeffrey Morgan, zuständig für Life Scienes bei der Beratungsgesellschaft Deloitte. «Aber über das Experimentierstadium sind wir hinaus.»

KI für die Rekrutierung von Patienten

Der Leverkusener Bayer-Konzern hat KI zum Beispiel für die Entwicklung seines derzeit grössten Hoffnungsträgers mit erwarteten Milliarden-Umsätzen - dem neuartigen Gerinnungshemmer Asundexian - genutzt. Das Unternehmen konnte nach eigenen Angaben damit die Zahl der Patienten für eine umfassende Phase-3-Studie um mehrere Tausend verringern.

Mithilfe von KI wurden die Ergebnisse der vorausgegangenen Studie mit realen Daten von Millionen von Patienten in Finnland und den USA verknüpft, um die langfristigen Risiken für einen Schlaganfall oder einer systemischen Embolie in einer der Studie ähnlichen Population vorherzusagen. Ausgestattet mit diesen Daten startete Bayer die Studie mit weniger Teilnehmern. Ohne KI hätte die Rekrutierung von Probanden bis zu neun Monate länger gedauert und Millionen gekostet, schätzt Bayer.

Nun will der Konzern noch einen Schritt weitergehen. Für eine Studie mit Asundexian zur Behandlung von Kindern nach einem Schlaganfall will Bayer reale Patientendaten verwenden und damit einen externe Kontrollgruppe bilden. Dadurch könnte die Notwendigkeit entfallen, dass Patienten in einer Kontrollgruppe ein Placebo einnehmen müssen.

Denn die Erkrankung ist in dieser Altersgruppe so selten, dass sich die Rekrutierung von Patienten schwierig gestaltet. Zudem gibt es Zweifel, ob in solchen Fällen die Verabreichung eines Placebos überhaupt ethisch vertretbar ist. Bayer setzt darauf, dass die anonymisierten realen Daten ausreichen, um herauszufinden, wie wirksam das Medikament ist.

Der Darmstädter Merck-Konzern springt ebenfalls auf den Zug auf und kündigte vor wenigen Tagen zwei Partnerschaften mit KI-Experten an, die die Geschwindigkeit und die Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Wirkstoffsuche erhöhen sollen. Auch bei Novartis hat KI die Aufnahme von Patienten in klinischen Studien schneller, günstiger und effizienter gemacht, wie Badhri Srinivasan, Leiter der weltweiten Entwicklung bei dem Pharmakonzern, bestätigt.

Die KI sei allerdings nur so gut wie die Daten, die sie erhalte, gibt er zu Bedenken. Nach Angaben der WHO stehen weniger als ein Viertel der Gesundheitsdaten öffentlich für die Forschung zur Verfügung.

Der US-Pharmakonzern Amgen verbrachte vor dem Einsatz von KI Monate damit, Anfragen an Ärzte von Johannesburg bis Texas zu schicken, um herausfinden, ob es in deren Kliniken geeignete Patienten für seine Studien gibt. Nun scannt das KI-Tool Atomic Unmengen interner und öffentlicher Daten.

Das könne die Zeit für die Rekrutierung im besten Fall um die Hälfte verkürzen, erklärt Amgen. Der Konzern hat Atomic bereits bei einer Handvoll Studien eingesetzt, in denen Medikamente für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs getestet wurden, und will es bis 2024 für die meisten seiner Studien verwenden. Amgen hofft, dass die KI bis 2030 dazu beiträgt, die Entwicklungszeit eines Medikaments von zehn oder mehr Jahren um zwei Jahre zu verkürzen.

Grenzen der KI

Einige Experten warnen allerdings vor unerwünschten Ergebnissen beim Einsatz von KI. Es gebe durchaus Unterschiede beim Abgleich von Behandlungserfolgen mit einer Gruppe, die ein Placebo erhält, oder einer per KI ausgewerteten externen Kontrollgruppe, erläutert etwa Richard Pazdur, Leiter der Onkologieabteilung der US-Arzneimittelbehörde FDA.

Normalerweise werden Patienten für eine Studie zufällig in Gruppen aufgeteilt, von denen eine das Medikament bekommt, die andere das Placebo. Die Probanden wissen aber nicht, zu welcher Gruppe sie gehören. Patienten, die an Studien teilnehmen, fühlen sich in der Regel besser, weil sie glauben, dass sie eine wirksame Behandlung erhalten und auch mehr medizinische Aufmerksamkeit bekommen. Beim Vergleich mit einer externen Kontrollgruppe könne der Erfolg eines Medikaments also überbewertet werden.

Dieses Risiko ist einer der Gründe, warum Aufsichtsbehörden auf randomisierte kontrollierte Studien bestehen. Sie gehen letztlich davon aus, dass KI zwar das Potenzial hat, den Prozess der klinischen Prüfung zu verbessern, sich die Beweisstandards für die Sicherheit und Wirksamkeit eines Arzneimittels aber nicht ändern werden. «Die Hauptrisiken bei der KI bestehen darin, dass wir sicherstellen wollen, dass wir keine falsche Antwort auf die Frage erhalten, ob ein Medikament wirkt», sagt John Concato von der FDA.

(Reuters)