Die Erleichterung über den Ausgang der französischen Parlamentswahlen währte in Berlin nicht lange. Der rechtsnationale Rassemblement National (RN) konnte am Sonntag zwar nicht die meisten Stimmen auf sich vereinen. Aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse ist ungeklärt, wie es in der französischen Politik weitergeht - und was die relative Mehrheit des linken Bündnisses für die deutsch-französische Zusammenarbeit bedeutet.

Deshalb wirkt es mit Blick auf die Bundesregierung wie ein glücklicher Umstand, dass sie ausgerechnet in der vergangenen Woche die Renaissance enger Beziehungen mit zwei alten und neuen Partnern feiern konnte: Auf den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen wurde ein breites Programm der Zusammenarbeit beschlossen. Am Samstag dann besuchte der neue britische Aussenminister David Lammy nicht nur als erste Station seiner Amtszeit Berlin, sondern versprach im Reuters-Interview einen Neustart mit Europa und Deutschland.

Schon bezeichnet der polnische Ministerpräsident Donald Tusk Deutschland und Polen als neue «Stabilitätsanker» in Europa - und verweist auf Unsicherheiten in Frankreich. Allerdings wird vor zu grossen Erwartungen gewarnt. «Deutschland darf nicht den Fehler machen, Frankreich links liegenzulassen», sagt der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter. «Das wäre ein sehr, sehr schwerer Fehler.» Auch Experten sehen dies so. «Frankreich ist in der EU nicht zu ersetzen. Man kann nur versuchen, den Verlust so viel wie möglich zu kompensieren», sagt Jana Puglierin, Bürochefin des European Council of Foreign Relations (ECFR) in Berlin. Auch Europastaatsministerin Anna Lührmann mahnt: «Wir brauchen Frankreich.»

In der Bundesregierung wird intern zudem gewarnt, den bis 2027 amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron vorschnell abzuschreiben. Man müsse abwarten, ob und in welchen Bereichen eine irgendwie geartete französische Regierung dem mit grossen Machtbefugnissen ausgestatteten Präsidenten Kursänderungen aufdrücken könne.

Proeuropäische Partner

Dennoch hat sich etwas Grundlegendes geändert - sowohl in Paris, London und Warschau als auch in Berlin. Seit einigen Monaten versucht Kanzler Olaf Scholz, die deutsche Europapolitik breiter aufzustellen. Schon unter seiner Vorgängerin Angela Merkel hatte sich gezeigt, dass deutsch-französische Absprachen zwar zwingende Grundlage für Fortschritte in der EU sind - aber nicht mehr ausreichen, um im Kreis der 27 Staaten Durchbrüche zu erzwingen. Deshalb

* trifft sich Scholz regelmässig mit den Ministerpräsidenten der drei baltischen Staaten

* kam er in Stockholm gerade mit den fünf skandinavischen Regierungschefs zusammen

* gibt es punktuell Kooperationen mit der Rechtsregierung in Rom.

Die Wahlsiege proeuropäischer Regierungen in Warschau und London eröffnen der Bundesregierung die Chance, auch mit diesen grossen Staaten die Zusammenarbeit zu vertiefen - auch wenn Grossbritannien nicht mehr in der EU ist und laut Aussenminister Lammy keine Rückkehr plant. «Deutschland und Polen arbeiten in der EU endlich wieder eng zusammen. Wir ziehen an einem Strang. Die Ergebnisse des Aktionsplans sollten wir jetzt zügig umsetzen», fordert Staatsministerin Lührmann. Der Europaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Nicolai von Ondarza. meint: «Für Deutschland bietet sich die Gelegenheit, die europäischen Partner zu diversifizieren.»

Norwegen-Modell für Grossbritannien?

ECFR-Bürochefin Puglierin hält es für nötig, dass die Bundesregierung über die EU hinausdenken solle. «Generell muss Deutschland offener für europäische Koalitionen ausserhalb der EU sein.» Der britische Aussenminister Lammy spricht von einem breitangelegten Sicherheitsabkommen mit der EU. Aus der Bundesregierung heisst es dazu: «Unabhängig vom Brexit teilen wir doch gerade mit der neuen Regierung in London viele aussen- und sicherheitspolitische Positionen.»

Scholz hatte schon vor dem Labour-Wahlsieg betont, dass er möglichst enge Beziehungen zum Königreich wolle. Der Grünen-Politiker Hofreiter verweist darauf, dass andere Nicht-EU-Staaten wie Norwegen oder die Schweiz eng an die Union angebunden seien. «Das Norwegen-Modell mit der EU würde Labour und die Demokratie im Königreich stabilisieren.» Nach Lührmanns Ansicht gibt es vor allem in Fragen von Sicherheit und Klimaschutz viele gemeinsame Interessen.

Ganz risikolos ist dies nicht: Für genaue Absprachen mit Grossbritannien müssten sich die EU-27 zunächst untereinander einigen, was sie Drittstaaten anbieten wollen. Einige Staaten, die die EU eher zurückschrauben wollen, etwa Ungarn, haben solche Themen in der Vergangenheit als Einfallstor für Spaltungsversuche gesehen.

Kurzfristig bleiben bange Blicke nach Paris. «Man kann nur darauf hoffen, dass Frankreichs neue Regierung nicht an einer totalen Blockade der EU-Ebene interessiert ist», sorgt sich Puglierin. «Auf Deutschland reagiert die französische Linke ja ähnlich allergisch wie der RN. Deshalb brauchen wir Alliierte.» 

(Reuters)