«Die Gefahr einer neuen Schuldenkrise nimmt zu», sagte ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski am Montag der Nachrichtenagentur Reuters. «Mit diesen Ergebnissen wird der Druck in vielen Mitgliedsstaaten steigen, um mehr Geld auszugeben - sei es für Investitionen, sei es für Umverteilung.» Da gleichzeitig keine Mehrheiten für europäische Instrumente wie dem Wiederaufbaufonds da sein dürften, sei der nächste Konflikt vorbestimmt.

Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sieht Gegenwind für den Euro. «Zwar dürfte es im Europaparlament am Ende eine ausreichende Mehrheit für den Status quo geben», sagte Krämer. «Aber bei der Parlamentsneuwahl in Frankreich, einem Kernland der EU, ist eine proeuropäische Mehrheit nicht mehr sicher.» Wenn es den traditionellen, europafreundlichen Parteien immer schwerer falle, die Wähler von ihren Positionen zu überzeugen, schwäche das grundsätzlich den Euro – auch gegenüber den anderen Währungen.

Nach den Worten von Berenberg-Bank-Chefvolkswirt Holger Schmieding schafft die von Präsident Emmanuel Macron ausgerufene Parlamentswahl erhebliche Unsicherheit über den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der nach Deutschland zweitgrössten Volkswirtschaft der Eurozone. «Angesichts des hohen französischen Haushaltsdefizits kann das französische Anleihen und den Euro etwas belasten», warnte Schmieding. Das Wahlergebnis könne eine gewisse Belastung sein, falls die Rechte tatsächlich im Parlament stark werde. Die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen bekam bei der Europawahl mehr als doppelt so viele Stimmen bekommen wie Macrons Renaissance-Bündnis, weshalb der Präsident die Nationalversammlung auflöst und für 30. Juni Neuwahlen ausgerufen hat.

«Die starken Verluste von Macron und der Ampel bedeuten, dass sowohl die französische als auch die deutsche Regierung handlungsunfähiger geworden sind», sagte ING-Chefökonom Brzeski. «Noch mehr wirtschaftspolitischer Stillstand ist wahrscheinlich.» Für die Wirtschaft bedeuteten die Ergebnisse vor allem eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass eine Vertiefung der Währungsunion erstmal im Gefrierschrank lande. Projekte wie Kapitalmarktunion, neue europäische Investitionen oder auch eine gemeinsame Industriepolitik dürften jetzt eher ent- als beschleunigt werden.

Die Europäische Volkspartei (EVP) behauptete zwar ihre Stellung als stärkste Fraktion im EU-Parlament. Allerdings konnten rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in vielen der 27 EU-Staaten deutlich zulegen.

(Reuters)