Ihr gehen Soldaten und Munition aus, um sich gegen die russische Übermacht zu verteidigen. Von den ursprünglich mehreren Tausend Soldaten der Brigade seien nur noch zwei Drittel im Einsatz, schätzt einer der Zugführer, der sich mit dem Kampfnamen «Tiger» vorstellt. Die übrigen seien tot, verwundet oder aus Krankheits- oder Altersgründen nicht mehr im Dienst. Am vergangenen Wochenende gab das ukrainische Militär die schwer umkämpfte Stadt Awdijiwka in der Ostukraine auf. Die Russen hätten dort siebenmal so viele Soldaten aufgeboten wie die Ukrainer, sagt ein ukrainischer Militärsprecher.

Am 24. Februar 2022 begann Russland seinen Grossangriff auf die Ukraine, die bereits seit 2014 in Kämpfe mit von Russland unterstützten Separatisten verwickelt war. Wieder einmal verwandelt nun der anbrechende Frühling den gefrorenen Boden in zähen Schlamm. Zwar sei die Kampfmoral der Verteidiger noch gross, sagen die mehr als 20 Mannschaftssoldaten und Offiziere, mit denen Reuters an der 1000 Kilometer langen Front gesprochen hat. Doch das wechselhafte Wetter mache den Soldaten zusätzlich zu schaffen. «Das Wetter ist Regen, Schnee, Regen, Schnee», sagt ein Kompanieführer mit dem Kampfnamen «Limousine». Grippeerkrankungen setzten seine Leute vorübergehend ausser Gefecht. «Es gibt niemanden als Ersatz. Das dringendste Problem in jeder Einheit ist der Personalmangel.»

«Fleischangriff»

Bis zu zehnmal täglich rückten Einheiten von fünf bis sieben russischen Soldaten gegen die ukrainischen Stellungen vor, sagt ein weiterer Kommandeur in der Brigade, der seinen Vornamen mit Hryhoryj angibt. «Fleischangriffe» nennen die Ukrainer diese für die Russen äusserst verlustreichen Attacken, die offenkundig auf eine Abnutzung der Verteidigungslinien zielen. «Wenn ein oder zwei Stellungen den ganzen Tag lang diese Angriffe abwehren, werden die Jungs müde», sagte Hryhoriy bei einer kurzen Erholungspause mit seinen erschöpften Männern hinter der Front. Zudem verschlissen die Waffen und die Munition gehe zur Neige.

Ein Soldat mit dem Kampfnamen «Skorpion», der in einer Artillerieeinheit dient, spricht ebenfalls von eklatantem Munitionsmangel. Der von ihm bediente Raketenwerfer des sowjetischen Modells «Grad» werde deswegen nur zu 30 Prozent seiner möglichen Kapazität eingesetzt. Artilleriegranaten werden ebenfalls knapp, da die Lieferungen westlicher Länder bei weitem nicht ausreichen. Während in den USA ein 61 Milliarden Dollar schweres Hilfspaket im Kongress festhängt, hat die EU eingeräumt, dass sie die bis März geplante Lieferung von einer Million Granaten um fast die Hälfte verfehlen wird.

Vertreter der Ukraine haben die Grösse ihrer Streitkräfte zuletzt auf rund 800'000 Mann beziffert. Ein neues Gesetz, mit dem bis zu 500'000 weitere Ukrainer mobilisiert werden sollen, ist im Parlament umstritten. In Russland dagegen hat Präsident Wladimir Putin bereits im Dezember die Aufstockung des Militärs um 170'000 Soldaten auf 1,3 Millionen angeordnet. Russland hat für das laufende Jahr ein Militärbudget von umgerechnet rund 109 Milliarden Dollar eingeplant. In der Ukraine sind es knapp 44 Milliarden Dollar.

Luftkrieg der Drohnen

Während der Stellungskrieg am Boden viele an den ersten Weltkrieg erinnert, tobt in der Luft ein bisher ungekannter Kampf der Drohnen. Flugzeuge sind an der Front aufgrund der Luftabwehr beider Seiten ein seltener Anblick. Die unbemannten Flugkörper hingegen sind billig in der Herstellung, können feindliche Bewegungen rasch aufklären und ihre Ziele punktgenau attackieren. Allein die Ukraine hat im vergangenen Jahr mehr als 300'000 Drohnen bestellt und mehr als 100'000 an die Front geliefert, sagt Digitalminister Mychajlo Fedorow zu Reuters. Russland hat seine Drohnenproduktion nach Angaben des Verteidigungsministeriums im vergangenen Jahr ebenfalls gesteigert, nennt jedoch keine Zahlen.

Die Drohnen erschwerten die Errichtung fester Stellungen, sagt der Kompanieführer «Limousine». «Unsere Jungs fangen an, eine Drohne sieht sie, und eine zweite Drohne kommt, um etwas abzuwerfen.» Aber auch wertvolle Fahrzeuge und Waffensysteme kommen kaum mehr in Frontnähe zum Einsatz. «Es ist jetzt sehr schwer, Fahrzeuge zu finden, die man treffen könnte», sagt ein ukrainischer Drohnenführer der 24. Brigade, Kampfname: «Nato». «Die meisten Fahrzeuge sind neun, zehn oder mehr Kilometer entfernt. Am Anfang waren sie noch bequeme sieben Kilometer entfernt.» 

(Reuters)