Es ist ein regnerischer Tag in Berlin, als am frühen Morgen ein Zug aus Brüssel in den Hauptbahnhof einfährt. Sarah und Sonia steigen aus und fühlen sich ausgeruht. Sie haben in Europas neuestem Nachtzug geschlafen und sind nun in der Hauptstadt angekommen - mit einer Stunde Verspätung. «Wenn man auf die Betten schaut, sehen die nicht gerade wie die bequemsten aus», sagt Sarah, eine Hebammenstudentin aus Belgien. Doch die beiden Freundinnen fühlen sich bereit für ein Wochenende voller Sightseeing und setzen ihre Rucksäcke auf.
Sie sind mit dem «Good Night Train» von European Sleeper gereist, einem niederländisch-belgischen Startup. Das Unternehmen wurde im Mai gegründet, weil die Gründer eine Nachfrage nach solchen Angeboten feststellten: Während klimabewusste Reisende eine emissionsärmere Alternative zum Flugzeug suchen, kommen Liebhaber einer romantischen und langsameren Form des Reisens voll auf ihre Kosten. Doch die Renaissance der Nachtzüge kämpft mit vielen Hindernissen. Inmitten der Konkurrenz durch Billigfluggesellschaften muss die Finanzierung organisiert und der Gewinn gesichert werden. Und das überfüllte und alternde Schienennetz in Europa erschwert einen zuverlässigen Betrieb.
European Sleeper kann davon ein Lied singen. Das Hin und Her mit den nationalen Bahnbetreibern, um sich auf einen Fahrplan für die Nachtzüge auf der Strecke Brüssel - Berlin zu einigen, sei zeitaufwendig gewesen, erzählt Mitbegründer Chris Engelsman. «Es ist sehr bürokratisch und kompliziert.» Anderthalb Jahre suchte das Startup den gesamten Kontinent nach gebrauchten Schlafwagen ab, die es mieten konnte. Nun besteht der Zug aus fünf bis zehn renovierten, weiss-roten Liegewagen. Über den Sommer reisten mehr als 20.000 Personen mit dem Zug. Defekte Steckdosen und kaputte Toiletten schmälerten das Reisvergnügen. In Extremfällen zwangen technische Defekte die Firma in letzter Minute dazu, einige Fahrgäste von Liege- auf Sitzplätze zurückzustufen oder ihre Fahrkarten komplett zu stornieren.
«Das Hauptaugenmerk liegt momentan auf Investitionen in das rollende Material, weil das so ein wichtiger Teil des gesamten Unternehmens ist», beschreibt Engelsman die Pläne des Startups. European Sleeper hofft, 40 bis 60 Millionen Euro für den Kauf eigener Waggons einsammeln zu können - das Zehnfache dessen, das über Investoren und Crowdfunding bisher reingekommen ist.
Andere Betreiber erhalten finanzielle Unterstützung durch den Staat, allen voran der österreichische Bahnbetreiber ÖBB. Er baut sein Nightjet-Netz aus, das im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Fahrgäste beförderte. Die Schlafwagen sind oft schon Wochen im Voraus ausgebucht. Ab Dezember kommen zwei neue Strecken von Berlin nach Paris und Brüssel hinzu. Die ÖBB hat 720 Millionen Euro für 33 moderne Nachtzüge ausgegeben, die gemeinsam mit Siemens Mobility entwickelt wurden. Es gebe eine höhere Nachfrage, sagt Alberto Mazzola vom Interessenverband der europäischen Eisenbahnunternehmen GEB. «Aber die grösste Herausforderung ist der Geschäftsplan.»
Abstellgleis oder Überholspur?
Der jahrelange Abbau des europäischen Nachtzugnetzes geht mit dem Aufstieg der Billigfluggesellschaften einher. Heute kostet ein Nachtzug von Berlin nach Zürich rund 160 Euro und dauert über zwölf Stunden. Dagegen kostet ein Flug zwischen den beiden Städten mit dem britischen Billigflieger Easyjet weniger als die Hälfte und ist deutlich schneller.
Berechnungen der norwegischen Regierung unterstreichen die Herausforderung an die Unternehmen, rentabel zu wirtschaften. Im vergangenen Jahr dämpfte Norwegen die Hoffnungen auf eine neue Strecke von Oslo nach Kopenhagen mit der Begründung, dass es bis zu vier Millionen Dollar pro Jahr an Subventionen ausgeben müsste, um Tickets zu einem Preis anbieten zu können, den die Reisenden bereit sind zu zahlen. «Es ist nicht einfach und es ist nicht unser Ziel, reich zu werden», sagt Engelsman von European Sleeper. Sein Unternehmen will dennoch expandieren, beginnend mit der lange verzögerten Streckenverlängerung bis nach Prag ab März 2024. Auch die Strecke Amsterdam - Barcelona fasst das Startup ins Auge.
Befürworter von Nachtzügen drängen auf mehr staatliche Unterstützung, um mit den Billigfliegern konkurrieren zu können, etwa durch eine Mehrwertsteuerbefreiung auf grenzüberschreitenden Strecken und niedrigere Trassengebühren. Doch abgesehen vom Kostendruck müssen sich die Nachtzugbetreiber in Europas veraltetem Netz mit uneinheitlichen Spurweiten und unterschiedlichen Sprachen zurechtfinden. Nachts konkurrieren die Züge mit dem Güterverkehr und den Bauarbeiten, die extra in diese Zeit gelegt werden. In den verkehrsreichen Morgenstunden rangeln sie mit den Pendlerzügen um Ankunftszeiten an den Bahnhöfen.
Der Zug von Sarah und Sonia, der ES453 von European Sleeper, fährt um 7.57 Uhr ein, eine Stunde und neun Minuten zu spät. Sonia macht das nichts aus: «Wir konnten noch ein bisschen länger schlafen.»
(Reuters)