Die vielen hundert Blumen, die Trauernde dort am Vortag zu Nawalnys Gedenken niedergelegt hatten, die Kerzen - sie wurden in der Nacht zum Samstag abgeräumt. Im Hintergrund des Denkmals am Lubjanka-Platz ragt die berüchtigte Geheimdienst-Zentrale auf, einst Sitz des KGB und heute von dessen Nachfolger FSB. Beobachtet von Polizisten, legt ein einzelner Mann eine Nelke neben den Stein, der aus einem früheren sowjetischen Gefangenenlager im hohen Norden Russlands stammt.

In einem anderen Lager am Polarkreis starb Behördenangaben zufolge am Freitag Nawalny, 47 Jahre alt, scharfzüngiger Kämpfer gegen Korruption und Unfreiheit und Russlands prominentester Gegner von Präsident Wladimir Putin. Der Ex-Geheimdienstmann Putin, der seit 1999 abwechselnd als Präsident und Ministerpräsident Russlands Geschicke bestimmt, will sich bei einer Wahl im März im Amt bestätigen lassen. «Alexej starb nicht - er wurde ermordet», sagt seine politische Weggefährtin und Sprecherin Kira Jarmysch zu Reuters. Der Widerstand gegen Putin solle auch ohne den charismatischen Nawalny fortgesetzt werden, der wegen «Extremismus» verurteilt worden war. «Wir haben unseren Anführer verloren, aber nicht unsere Ideen und Überzeugungen», sagt Jarmysch.

Doch Aufbegehren gegen die Staatsmacht ist in Russland gefährlich und unpopulär. Der Mann, der eine Nelke am Gedenkstein niedergelegt hat, nennt dem Reuters-Reporter zwar seinen Namen, Wladimir Nikitin, 36 Jahre alt. Doch für ein Gespräch bittet er in die Fussgängerunterführung unter dem Platz, ausser Sicht- und Hörweite der Polizisten. «Nawalnys Tod ist schrecklich. Hoffnungen haben sich zerschlagen», sagt Nikitin dann. «Er hat die Wahrheit gesagt. Und das war sehr gefährlich, weil einige Leute die Wahrheit nicht mögen.» Bei Versammlungen zu Nawalnys Gedenken in Dutzenden Städten wurden der Bürgerrechtsplattform OVD-Info zufolge bis Samstag mindestens 340 Menschen festgenommen. Das ist die grösste Festnahmewelle seit fast eineinhalb Jahren.

Unterdessen geniessen viele Moskauer den Beginn des Wochenendes. An den Patriarchenteichen, einem Zentrum des Nachtlebens der Hauptstadt, vergnügen sich zahlreiche junge Menschen in den Lokalen. «Natürlich ist es traurig, wenn jemand stirbt», sagt die Russin Olga Kasakowa, von Reuters angesprochen auf Nawalnys Tod. «Aber ihr im Westen zeichnet das Bild von jemanden, der er nicht war. Der Westen ist nicht unser Freund. In der Ukraine kämpft ihr gegen uns.» Der Grossangriff Russlands auf das Nachbarland, von Putin mit Zustimmung vieler Russen als «militärische Spezialoperation» bezeichnet, jährt sich am 24. Februar zum zweiten Mal.

Nawalnys Angehörige und Freunde dringen darauf, dass die Behörden Nawalnys Leichnam zur Bestattung freigeben. Am Samstag traf seine 69 Jahre alte Mutter Ljudmila Nawalnaja mit einem Rechtsanwalt bei minus 30 Grad in dem Straflager «Polarwolf» ein, aus dem der Tod ihres Sohnes gemeldet worden war. Dort, nahe der Ortschaft Charp, sei er am Freitag um 14.17 Uhr Ortszeit (10.17 Uhr MEZ) zusammengebrochen, aufgrund eines «plötzlichen Todessyndroms», teilten ihr die Behörden mit. Der Leichnam werde in die Regionalhauptstadt Salechard überführt und dort untersucht. Das könne sich bis in die kommende Woche hinziehen. Am Samstag stand Nawalnaja am Leichenschauhaus der Stadt vor verschlossenen Türen.

(Reuters)