Der Yale-Historiker Timothy Snyder hat Deutschland in Anspielung auf die unklare Entwicklung in den USA als «die wichtigste Demokratie» der Welt bezeichnet. Zumindest die Wahlbeteiligung von 83,5 Prozent - die höchste seit 1987 - war am Sonntag beeindruckend für ein Land ohne Wahlpflicht. Schon am Abend wurde klar, dass sich die SPD als Wahlverliererin Gedanken macht, ob und unter welchen Bedingungen sie überhaupt zum Regieren bereit ist. Es gebe keinen «Automatismus» einer Regierungsbeteiligung, warnten SPD-Generalsekretär Matthias Miersch und später SPD-Co-Chefin Saskia Esken - während der Wahlsieger, CDU-Chef Friedrich Merz, sofort schnelle Koalitionsgespräche forderte. Die Welt warte nicht «auf langatmige Koalitionsgespräche und -verhandlungen».
Schnelles Ende der Kanzlerschaft Scholz - was macht die SPD?
Ungewöhnlich an der Wahl war nicht nur, dass Olaf Scholz nach nur dreieinhalb Jahren als Kanzler wieder abgewählt wurde. Seine Ampel-«Fortschrittskoalition» aus SPD, Grünen und FDP hatte nach Zahlen von Infratest dimap sein Image als Kanzler derart massiv beschädigt, dass nicht nur er, sondern auch dieses Koalitionsmodell am Ende scheint. Die Zahl der Menschen, die ihn für kanzlerfähig halten, hat sich gegenüber 2021 mehr als halbiert - und auch SPD-Generalsekretär Miersch gab Scholz noch am Abend eine Mitschuld.
Am Abend schob die SPD den Ball erst einmal dem Wahlsieger Merz zu. Der müsse nun eine Regierungsbildung versuchen, war der einhellige Tenor. Einen Warnschuss setzte Co-Parteichef Lars Klingbeil übrigens bereits am Samstagabend, als er nach polemischer Kritik von Merz an linken und grünen Wählern warnte: «Kann man machen. Schlau ist es allerdings nicht.» In anderen Worten: Die SPD will sich den Eintritt in eine Merz-Regierung teuer bezahlen lassen, zumal die Zweifel an dem CDU-Chef in der eigenen Anhängerschaft gerade nach der gemeinsamen Abstimmung der Union mit der AfD bei einer Asyl-Resolution im Bundestag sehr gross sind. Auch die Grünen würden Forderungen stellen, falls sie für eine Dreier-Koalition benötigt würden, kündigte der Co-Vorsitzende Felix Banaszak im ZDF an.
Union beginnt zu werben - Kurs aber unklar
Im Konrad-Adenauer-Haus herrschte zwar Jubel, als die Zahlen bekanntgegeben wurden. Aber hinter vorgehaltener Hand ist man in der Union enttäuscht, nicht einmal die 30 Prozent erreicht zu haben. Vor einem Monat hatte man in der CDU/CSU noch auf 35 bis 38 Prozent gehofft. Das gefährdet zwar nicht die Stellung von Merz. Aber hinter den Kulissen muss nun geklärt werden, wie hart man in die Koalitionsgespräche einsteigt.
Entscheidend wird nun sein, ob und an welcher Stelle die Union Kompromisse anbietet. Die «Friss oder stirb»-Phase, die SPD und Grüne Merz vorgeworfen haben, dürfte auf jeden Fall beendet sein, wenn Merz seinen Traum einer Kanzlerschaft erreichen will.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, mahnte allerdings schon, dass man bei der Migrationspolitik keine grossen Zugeständnisse machen könne, weil die übergrosse Mehrheit der Deutschen hier drastische Veränderungen wolle. Die Zurückweisung aller Flüchtlinge halten die potenziellen Koalitionspartner SPD und Grüne aber für den Bruch des Grundgesetzes und EU-Rechts.
Die Hardliner in der Union warnten bereits am Abend in Gesprächen, dass man für eine Koalitionsbildung nicht zentrale Punkte der eigenen Programmatik opfern dürfe - weil sonst nur die AfD profitiere. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther wiederum mahnte mit Blick auf die Hardliner dagegen eine schnelle «Koalition der Mitte» an.
AfD-Schatten von 2029
Hintergrund der Debatte in der Union ist auch, dass sowohl Spitzenpolitiker der Union als auch SPD warnen, dass in der nächsten Legislaturperiode zentrale Probleme gelöst werden müssten. Ansonsten drohe, dass die AfD, die erstmals ein Ergebnis um die 20 Prozent auf Bundesebene erreichte und im Osten dominierende Kraft wurde, in vier Jahren an die Macht kommen könnte.
Dabei zeigten das Ergebnis und die ersten Reaktionen der Politiker auch, dass sich Deutschland eben doch von anderen westlichen Demokratien unterscheidet: Denn es gilt weiter, dass niemand mit den Rechtspopulisten regieren möchte, obwohl die Union mit der AfD eine klare Mehrheit hätte. Nun zeigt sich auch, dass der Einfluss rechtsgerichteter US-Politiker im Wahlkampf begrenzt war. Die Anschlagsserie und Rückkehr der Asyl-Debatte ins Zentrum des Wahlkampfs sorgte zwar dafür, dass die AfD gegenüber den Werten von Dezember noch um zwei bis drei Prozentpunkte zulegen konnte. Aber die Wahlaufrufe von US-Milliardär Elon Musk und des US-Vizepräsidenten JD Vance für die AfD scheinen die Zustimmungswerte für die Partei laut Demoskopen nicht mehr signifikant erhöht zu haben. Der US-Präsident Donald Trump äusserte sich am Abend begeistert über den Wahlsieg der Union.
(Reuters)