«Europa ist nicht das Ziel, sondern der Kompass», rief er den Jugendlichen am Montag zu - und hielt die wohl energischste Rede für die EU, die es bisher im Europawahlkampf gerade in Ostdeutschland gegeben hat. Doch die euphorischen Kommentare über die Rede und die demonstrative Harmonie auf dem ersten Staatsbesuch eines französischen Präsidenten seit 24 Jahren können nicht verdecken, dass es weiter deutliche Meinungsverschiedenheiten im deutsch-französischen Verhältnis gibt.

Scholz und Macron raufen sich zusammen

Immerhin haben sich Kanzler Olaf Scholz und Macron seit einigen Wochen ganz bewusst zusammengerauft und demonstrieren seither deutsch-französische Einigkeit. Scholz spricht auf Internet-Medien Französisch, Macron hält nicht nur im Bundestag eine Rede auf Deutsch, sondern wechselt auch in Dresden zwischen beiden Sprachen hin und her. Nachdem gerade dem Hamburger Scholz mangelnde Empathie für den wichtigsten Partner Deutschlands vorgeworfen worden war, machte der Kanzler vor kurzem mit seiner Frau Urlaub in Paris - mit privatem Abendessen mit den Macrons. «Die Stimmung ist nicht unwichtig bei der Aussendarstellung der Beziehungen. Macron kann spüren, was in Deutschland wichtig ist und auf welch soliden Beinen die Freundschaft steht», sagt Yann Wernert, Europaexperte des Jacques-Delors-Instituts in Berlin, auch zur Bedeutung des Staatsbesuchs zu Reuters.

Auch inhaltlich rückten Scholz und Macron zusammen: Auf dem letzten EU-Gipfel verkündeten beide mit Blick auf das Arbeitsprogramm der nächsten EU-Kommission übereinstimmend, dass sie als Duo in der EU etwa nun die Vollendung der Kapitalmarktunion, eine kräftige Entbürokratisierung und eine engere Zusammenarbeit im Verteidigungssektor durchsetzen wollen.

Damit sollen die Berichte über Dauerdissonanzen zwischen Kanzler und Präsident beendet werden - die Scholz übrigens selbst stets abstritt. In Berlin gab Macron jenen Dauerkritikern eine kleine Nachhilfestunde, die die Qualität der deutsch-französischen Beziehungen am Angebot eines Fischbrötchens an Macron in Hamburg und angeblich fehlenden deutschen Antworten auf Macrons Sorbonne-Reden über Europa bewerten. Kurzerhand zählte er die im bilateralen Schulterschluss erzielten EU-Vereinbarungen vom 750-Milliarden-Euro-Corona-Wiederaufbaufonds bis zu den Sanktions-Paketen gegen Russland auf. «Das ist die schönste aller Antworten, wir haben es geschafft», sagte Macron.

Und beim deutsch-französischen Ministerrat in Meseberg betonten beide am Dienstagabend übereinstimmend: «Wir einigen uns immer». Zugleich erhob der französische Präsident wieder den alten Führungsanspruch des Paares: «Wir gehen als deutsch-französisches Tandem voran, Europa folgt.» Das wollte Scholz zwar mit Blick auf die durchaus grosse Skepsis anderer EU-Partner vor einer deutsch-französischen Dominanz nicht wiederholen. Aber auch er verwies darauf, dass bilaterale Einigungen gerade deshalb so wertvoll für die EU seien, weil Paris und Berlin sehr oft bei Themen anfangs völlig unterschiedliche Positionen hätten.

Lahmender Präsident - gefesselter Kanzler

Dennoch können die feurigen Worte Macrons nicht die Probleme überdecken, die beide Regierungen haben. Frankreichs Präsident bekommt für seine proeuropäische Reden in Deutschland mehr Applaus als in Frankreich. Laut Umfragen droht seiner Partei eine bittere Niederlage bei der Europawahl: Sie kommt nur auf die Hälfte der Stimmen der führenden Rechtsaussen-Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen. In der Nationalversammlung hat er keine Mehrheit. Und sein energischer Appell zur Unterstützung der Ukraine steht in seltsamen Kontrast dazu, dass das finanziell klamme EU-Land nur eine sehr viel geringere Hilfe als etwa Deutschland leistet.

Scholz wiederum kann viele Ideen Macrons gar nicht mitgehen, weil er in der Ampel-Koalition vor allem durch die FDP in fiskalischer Hinsicht gefesselt ist. SPD und Grüne könnten Finanzminister Christian Lindner nicht einmal in der nationalen Debatte um den Haushalt 2025 dazu bewegen, die Schuldenbremse auszusetzen, heisst es in Regierungskreisen. Wie soll da die von Macron geforderte Verdoppelung des EU-Haushalts oder die Einrichtung neuer Sondertöpfe auf EU-Ebene möglich werden?

Zudem schwebt Macron in der Tradition französischer Präsidenten eher vor, Finanzprobleme in der EU vor allem über eine stärkere und gemeinsame europäische Verschuldung zu erreichen. Er verweist darauf, dass auch die USA und China bei der Kreditaufnahme wenig Grenzen kennen. Doch für Deutschland sowie eine ganze Reihe nord- und osteuropäischer EU-Staaten war das bisher ein No-Go. «Während Macron sich für ein starkes Europa einsetzt, steht Scholz auf der Bremse», kritisiert der Grünen-Europaabgeordnete Rasmus Andresen deshalb.

Klassische deutsch-französische Widersprüche

Zudem wurde gerade bei Macrons Besuch sichtbar, dass sich an anderen traditionellen Differenzen zwischen beiden Ländern nicht viel geändert hat. In dem gemeinsamen Gastbeitrag für die «Financial Times» beschwören Scholz und Macron zwar den nötigen Kampf für mehr Wettbewerbsfähigkeit. Aber Frankreichs Präsident denkt dabei auch an protektionistische Massnahmen, will Aufträge bevorzugt für europäische Firmen und kanzelt Kritiker in der Auseinandersetzung mit den USA und China als «naiv» ab.

In der Verteidigungspolitik zeigte sich Scholz offen für Macrons Ideen, verstärkt über eigene europäische Abschreckungsfähigkeiten im konventionellen wie nuklearen Bereich zu sprechen. Aber ganz bewusst kauft die Bundesregierung auch in den USA für Milliarden Waffen ein, während Macron in Dresden warnte: «Wir dürfen nicht in die Falle tappen, nationalistisch zu werden oder nur nach Amerika zu schauen. Wir sollten entschlossen als Europäer handeln.» Ohne den Schutz der USA auskommen zu wollen, wird in Berlin - und in Warschau - dagegen als «Naivität» angesehen, die man sich nur in dem weiter von Russland entfernt liegenden Frankreich leisten könne.

(Reuters)