Die Schweizerische Nationalbank (SNB) ist mit Zinssenkungen im März und Juni international vorgeprescht. Dies bei einem bereits relativ tiefen Zinsniveau. Andere Zentralbanken haben länger zugewartet oder haben noch nicht gehandelt: Die Europäische Zentralbank hat erst im Juni einen ersten Zinsschritt nach unten getan und hat am Donnerstag von einer weiteren Senkung abgesehen. Die amerikanische Notenbank Fed wird wohl erst im September folgen. Vielleicht.

Mit dem geldpolitischen Entscheid vom Juni hat die Nationalbank auch negative Realzinsen herbeigeführt: Die Inflationsraten von 1,4 Prozent im Mai und 1,3 Prozent im Juni liegen höher als der SNB-Leitzins von nunmehr 1,25 Prozent und auch höher als die Renditen auf 10-jährige Eidgenossen. Diese sind seit Ende Mai von 0,91 auf 0,54 Prozent gesunken.

Man darf sich zurecht fragen, ob die SNB-Zinssenkungen unnötig früh oder unnötig weit gesenkt hat. Erstens: Die Schweizer Wirtschaft ist im Startquartal 2024 moderat gewachsen, und das Bruttoinlandprodukt dürfte im Gesamtjahr 1,2 Prozent steigen. 2025 wird das Wachstum nach aktuellen Prognosen auf 1,7 Prozent anziehen.

Gestützt wird diese Entwicklung unter anderem durch den privaten Konsum, und die Industrie blickt einer Erholung entgegen. «Das ist kein konjunkturelles Umfeld, das nach tiefen Zinsen ruft», schreibt etwa Thomas Stucki, Anlagechef der St. Galler Kantonalbank, in einer Notiz Anfang dieser Woche. 

Eine zu frühe Zinssenkung kann sogar einen unerwünschten Effekt haben. Sie erhöht «das Risiko, dass die Inflation nicht nachhaltig im Zielband bleibt. Zudem sinkt der Spielraum, die Zinsen in einer konjunkturellen Krise weiter senken zu können», sagt Ökonomin Alexandra Janssen, CEO von Ecofin, gegenüber cash.ch. 

Zweitens hat der Schweizer Franken seit Anfang Jahr gegenüber dem Euro und dem Dollar insgesamt abgewertet. Das Argument, ein starker Franken und sein negativer Einfluss rechtfertige tiefere Zinsen, ist gegenwärtig also fragwürdig - laut Stucki ist es sogar kaum stichhaltig.

Drittens beträgt die Teuerung der Inlandgüter zurzeit zwei Prozent, sie befindet sich somit an der Obergrenze des Wohlfühlbereichs der SNB. Die Inlandinflation ist aus Sicht von Alexandra Janssen eine wichtige Zielgrösse, «die dafür gesprochen hätte, mit einer weiteren Zinssenkung noch weiter zuzuwarten.»

Viertens ist keine Deflation in Sicht, der die Schweizer Zentralbank entgegenwirken müsste. Die Teuerung ist zwar zurückgegangen. Und die Strompreise dürften nächstes Jahr wieder fallen, die Mieten nicht durch einen höheren Referenzzinssatz steigen. «Dennoch ist ein Absinken der Inflationsrate gegen null unwahrscheinlich», so Stucki. Die Prognosen der Nationalbank geben ihm recht. Bei einem Leitzins von 1,25 Prozent sagt die SNB Inflationsraten von mindestens 1,0 Prozent in der Zeit bis Anfang 2027 voraus.

Zinssenkung schafft Raum für Bilanzabbau

Die Nationalbank selbst hat ihre Zinsentscheide mit dem geringeren Inflationsdruck und den tieferen Teuerungsraten begründet. Diese liegen seit letztem Sommer wieder im SNB-Zielband von null bis zwei Prozent. In den Augen der SNB herrscht damit wieder Preisstabilität. Sie hält die monetären Bedingungen - Zinsen und Wechselkurse - nach dem geldpolitischen Entscheid vom Juni für angemessen.

Alexandra Janssen nennt aber auch zwei Gründe, die für die Zinssenkungen sprechen. Zunächst: Die Geldmengen sind in den letzten zwei Jahren stark geschrumpft. Nach Informationen der SNB haben die Geldmengen seit Mitte 2022 mit Raten bis zu 18 Prozent abgenommen, nachdem sie während Jahren gewachsen waren. Eine solche Geldmengenschrumpfung belaste die Wirtschaft, sagt Janssen. «Zinssenkungen wirken dem entgegen.»

Nicht zu vergessen: Die SNB-Bilanz ist mit 850 Milliarden Franken per Ende März nach wie vor sehr gross. «Sie sollte abgebaut werden - auch, damit politische Diskussionen um die SNB-Gewinne entschärft werden», erklärt Janssen. Über die Nationalbankgewinne reden Schweizer Politiker in der Tat gerne. Die Gewinne sollen der AHV zugute kommen, finden die einen. Andere wollen die Mittel dem Bund ausschliesslich für den Schuldenabbau zuweisen.

Ein Zurückfahren der Nationalbankbilanz kann solche Begehrlichkeiten eindämmen. «Der Spielraum für einen Bilanzabbau ist grösser, wenn der Franken nicht zu stark ist», erklärt Janssen. «Die Zinssenkungen können die Möglichkeit bieten, den Bilanzabbau schneller voranzutreiben.»

So oder so: Der Lackmustest für die SNB-Zinspolitik kommt, wenn der Franken wieder aufwertet - nervös dürfte die SNB werden, sollte sich der Euro wieder der Marke von 95 Rappen nähern oder darunter fallen. Die anhaltenden geopolitischen Konflikte sowie die Unsicherheiten in der Eurozone aufgrund des angeschlagenen französischen Staatshaushalts sprechen gegen den Euro und für höhere Frankennotierungen.

Auf solche dürfte die Schweizer Notenbank kaum mit Devisenmarktinterventionen reagieren. Wahrscheinlicher sind weitere Zinssenkungen.