Nachdem Brasilien im vergangenen Jahr Musks Social-Media- Plattform X kurzzeitig wegen des Vorwurfs der Hassrede und Falschmeldungen stillgelegt hatte, rüstet sich das Land derzeit für einen grösseren Showdown mit den sozialen Netzwerken: Präsident Luiz Inácio Lula da Silva führt förmlich einen Kreuzzug gegen Desinformation - die seiner Meinung nach so weit verbreitet ist, dass sie die Demokratie gefährdet.
Dieses Vorgehen wird in Europa ganz genau beobachtet: In den letzten Tagen hat Lula - wie der brasilianische Staatschef genannt wird - mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und mit dem portugiesischen EU-Ratspräsidenten Antonio Costa gesprochen. Ihr Thema: Möglichkeiten zur Wahrung der Souveränität der Länder und der Kampf gegen Desinformation, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Hassverbrechen in den sozialen Medien. Macron und Lula hätten bereits viele Gespräche zu diesem Thema geführt und Brasilien bringe seine Expertise in mehreren Bereichen ein, sagte Tiennot Sciberras, Pressesprecher der französischen Botschaft in Brasilien. «Im Bereich der Bekämpfung von Desinformation ist es Brasilien, das uns vorantreibt.»
Lulas Schlachtruf findet immer mehr Anklang, während Musk auf X Falschmeldungen und Verschwörungstheorien verbreitet und gleichzeitig politische Oberhäupter in Grossbritannien, Deutschland und der EU angreift. Der Ausgang von Lulas Gegenschlag könnte also entweder ein Modell dafür sein, wie man als Nation reagieren sollte — oder eine Lehre, wo die Grenzen des staatlichen Einflusses auf die grossen Technologieunternehmen liegen.
Erst in diesem Jahr wurde in Brasilien ein mit künstlicher Intelligenz erzeugtes gefälschtes Video veröffentlicht, in dem Finanzminister Fernando Haddad angeblich die Einführung neuer Steuern ankündigte. In den Falschmeldungen, die von Oppositionspolitikern verbreitet wurden, war davon die Rede, dass die Regierung dabei sei, das beliebte Sofortzahlungssystem Pix zu besteuern. Infolgedessen musste die Regierung ihre Pläne, die Überwachung der Zahlungsplattform zu verstärken, verwerfen.
Rechtsfreier Raum
«Soziale Medien sind kein rechtsfreier Raum», warnte der Richter am Obersten Gerichtshof Alexandre de Moraes am 8. Januar — einen Tag nachdem Meta angekündigt hatte, auf Faktenprüfer zu verzichten. Moraes — der im vergangenen Jahr das Verfahren gegen Musk geleitet hatte — gedachte mit den Worten den Unruhen in Brasilia vor genau zwei Jahren, die durch Fake News angeheizt wurden.
Die Probleme in den sozialen Netzwerken seien «Hassrede, Nazismus, Faschismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und antidemokratische Kommentare». Den Netzwerken werde ihre Tätigkeit im Land nur gestattet, wenn sie das brasilianische Recht einhalten — «unabhängig von der Prahlerei unverantwortlicher Big-Tech-CEOs.» Für die Trump-Administration dürfte das ein rotes Tuch sein. Ihre Affinität zu Big-Tech-CEOs wie Musk und Meta-CEO Mark Zuckerberg wurde gleich bei der Amtseinführung des US- Präsidenten deutlich.
Die brasilianische Regierung arbeitet an Möglichkeiten zur Besteuerung grosser Technologieunternehmen und zur wettbewerbsorientierten Regulierung des Sektors. Der Oberste Gerichtshof hat indes begonnen, zu erörtern, ob die Branche für von Nutzern gepostete Inhalte, die Hassrede, Fake News oder Beleidigungen darstellen, verantwortlich gemacht werden kann. Ein Gesetzentwurf zur Regulierung von KI wurde unterdessen im vergangenen Jahr vom Senat verabschiedet, muss aber noch vom Parlament gebilligt werden.
Spannungen mit USA weiter anheizen
Die Regierung von Lula plante für den 22. Januar eine öffentliche Anhörung zu neuen Richtlinien für die Moderation von Inhalten — zu der laut Generalstaatsanwaltschaft Vertreter von Alphabet, LinkedIn, Meta, TikTok, X, der Instant-Messaging-App Discord und der Video-App Kwai eingeladen waren. Sie nahmen jedoch weder an der Anhörung teil noch begründeten sie ihre Abwesenheit.
All dies dürfte die Spannungen mit der Trump-Administration weiter anheizen. Vizepräsident J.D. Vance hat bereits einen Warnschuss in Richtung Europa abgegeben, indem anregte, die Unterstützung der USA für die Nato an die EU-Politik zur Regulierung von X zu koppeln. Die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts zwischen den USA und Brasilien ist mit Trumps Entscheidung, Brendan Carr zum Leiter der Federal Communications Commission zu ernennen, weiter gestiegen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Musk und Brasilien beschuldigte Carr die nationale Telekommunikationsbehörde Brasiliens, Anatel rechtswidriger und parteiischer politischer Handlungen.
Er beschuldigte auch die Regierung Lulas, gegen ihre eigenen Gesetze verstossen zu haben, indem sie gegen Musks Unternehmen X und Starlink rechtswidrige parteipolitische Massnahmen ergriffen habe. Doch schliesslich lenkte Musk ein und kam den Forderungen des Obersten Gerichtshofs nach, wozu auch die Schliessung einiger Benutzerkonten und die Ernennung eines rechtlichen Vertreters für X im Land gehörten. Trump berief sich auf das brasilianische Verbot von X in seinem Antrag vom 27. Dezember, in dem er den Obersten Gerichtshof der USA aufforderte, das Verbot der in chinesischem Besitz befindlichen Video-App TikTok auszusetzen. Die Massnahmen Brasiliens „scheinen auf dem Wunsch dieser Regierung zu beruhen, unliebsame politische Äusserungen zu unterdrücken.»
Brasilien hat laut dem brasilianischen Generalstaatsanwalt Jorge Messias langjährige Erfahrung mit den Problemen, die durch uneingeschränkte, überwiegend in amerikanischem Besitz befindliche Social-Media-Plattformen entstehen. «Die Situation hat sich mit dem Kurswechsel von Meta verschlechtert, aber wir wurden bereits seit anderthalb Jahren von Elon Musk angegriffen», sagte Messias. «Da es sich um einige wenige Unternehmen handelt, die weltweit dominieren, sollte sich die Welt natürlich koordinieren, um eine globale Antwort zu finden.»
Demokratisches System in Gefahr
Lula sei davon überzeugt, dass Brasilien das Richtige tue, indem es Meta und Musk die Stirn biete, sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Person. Gleichzeitig stelle er eine Lethargie im Umgang mit dem Problem fest, weshalb seine Regierung versuche, andere Nationen in eine Diskussion über die globale Dominanz der grossen Technologieunternehmen einzubeziehen. Der Präsident sei entschlossen, den Druck aufrechtzuerhalten und spreche das Thema in seinen regelmässigen Gesprächen mit verschiedenen Staats- und Regierungschefs an, so eine andere Person. Nach Angaben des Élysée-Palasts haben Lula und Macron am 10. Januar über ihren gemeinsamen Kampf gegen Desinformation und für die Regulierung von Inhalten in den sozialen Netzwerken telefoniert. In ähnlicher Weise haben Brasilien und Grossbritannien gemeinsame Projekte gestartet, um die Widerstandsfähigkeit der Öffentlichkeit gegen falsche oder irreführende Inhalte zu stärken.
Die Partnerschaft zwischen Grossbritannien und Brasilien sei in diesem Bereich «sehr stark», teilte die britische Botschaft in Brasilia mit. Dies wird auch immer dringlicher. Musk hat Premierminister Keir Starmer nicht nur persönlich beleidigt und dessen linksgerichtete Labour-Regierung kritisiert, sondern auch Verschwörungstheorien über einen Missbrauchsskandal verbreitet. Zudem unterstützt er die rechtspopulistische AfD vor den Bundestagswahlen am 23. Februar. Gleichzeitig hat sich sein Streit mit der EU verschärft, nachdem die EU-Kommission ihre Untersuchung gegen X wegen mutmasslicher Verstösse gegen den Digital Services Act (DSA) — der zur Eindämmung von Hassrede und Desinformation dient — verschärft und den Zugang zu internen Dokumenten verlangt hat.
«Das demokratische System ist weltweit in Gefahr», sagte Lula in einer Rede am 16. Januar und argumentierte, dass Fehlinformationen jeden Tag und jede Minute bekämpft und in Frage gestellt werden müssen. Im November nahm Lula einen Artikel über die Notwendigkeit der Regulierung sozialer Medien in seine Abschlusserklärung des G20-Gipfels auf, dessen Vorsitz er innehatte. Das Thema steht auf Lulas Agenda so weit oben, weil die sozialen Medien die treibende Kraft hinter dem Putschversuch vom 8. Januar waren, der fast erfolgreich war, sagte ein hochrangiger Beamter. Die anschliessende Desinformation, die elektronische Stimmzettel und Pix angriff, Innovationen, die unangreifbar sein sollten, zeige, wie heftig und gesetzlos die digitale Umgebung geworden sei, sagte der Beamte.
Nach dem 8. Januar versuchte die Regierung, die sozialen Medien zu regulieren, doch die rechte Opposition behauptete, es handele sich um Zensur und blockierte die Debatte. Doch Lula will die Gunst der Stunde nutzen und einen neuen Versuch wagen. «So wie sich der Staat in der Vergangenheit organisiert hat, um Monopolen, Oligopolen und Kartellbildungen entgegenzutreten, und Kartellbehörden geschaffen hat, muss sich der Staat auch auf die gigantische Macht vorbereiten, die diese grossen Technologieunternehmen heute haben», sagte Generalstaatsanwalt Messias. «Die Regierungen der Welt müssen sich organisieren, um diesem neuen Phänomen zu begegnen.»
(Bloomberg)