Die Erleichterung über den Rückzug von US-Präsident Joe Biden aus dem Präsidentschaftsrennen ist in Deutschland seit Sonntag überall spürbar. «Mit Biden hätten die Demokraten gegen Donald Trump verloren, jetzt haben sie mit Kamala Harris zumindest eine Chance», heisst es in Regierungskreisen mit Blick auf die wahrscheinlichste demokratische Kandidatur für die Wahl im November. Allerdings gibt es ein kleines Problem, wenn die Sprache auf die 59-Jährige kommt: Ein sehr klares Bild hat sie in ihrer Amtszeit bisher nicht hinterlassen, weil sie als Vizepräsidentin nicht nach vorne auf die Bühne drängte. Nur in einem scheinen sich alle Gesprächspartner einig zu sein: Schlecht wäre ihre Wahl zur US-Präsidentin für Europa nicht. «Sie ist eine klare Transatlantikerin», sagt etwa Nils Schmid, SPD-Aussenpolitiker, zu Reuters.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sie mindestens vier Mal getroffen: einmal bei einem bilateralen Gespräch mit Biden im Weissen Haus, bei dem sie dazu stiess. Zweimal begegnete er ihr bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), wo sie die US-Delegation anführte. Und zuletzt traf er sie vor wenigen Wochen in der Schweiz auf der Ukraine-Friedenskonferenz. Auch wenn Scholz vor allem mit Präsident Biden nach eigenen Angaben ein enges Verhältnis hatte: Negativ kann der Eindruck von Harris nicht gewesen sein. «Harris ist eine erfahrene, kompetente Politikerin», sagte eine Regierungssprecherin am Montag.

Das betonen auch die Aussenpolitiker, die sie in München beobachtet haben. «Das Wichtigste ist: Harris hat sich klar zur Nato bekannt, auch wenn sie anders als der sehr erfahrene Biden eine 'gelernte Transatlantikerin' ist», sagt Schmid. Das sei aber angesichts ihres geringeren Alters und anderer Themensetzungen in der politischen Karriere weder ein Wunder noch ein Nachteil. «Aber Harris hat klare Positionen und Prinzipien, auch gegenüber Russland. Für uns wäre sie eine bekannte Grösse und eine gute Partnerin», betont er.

Noch immer hallt nach, dass Harris im Februar in München ein klares Plädoyer für die Nato abgab und die Europäer aufforderte, sich nicht von isolationistischen Kommentaren wie vom früheren Präsidenten Donald Trump beunruhigen zu lassen. Die USA seien ein verlässlicher Partner, versicherte sie.

Ähnlich positiv klingt Johann Wadephul, stellvertretender CDU/CSU-Fraktionschef: «Mein Eindruck war, dass Kamala Harris ein sehr vorsichtig vorbereitetes und sehr eng geführtes Programm absolviert hat», sagt er zu Reuters mit Blick auf ihre Auftritte in München, wo sie jeweils eine ganze Reihe internationaler Politiker traf. Das sei in Ordnung, weil sie ihr aussenpolitisches Profil erst noch aufbauen müsse. «Gut ist aber, dass sie sich dieser Veranstaltung und den Diskussionen stellt und somit Interesse am internationalen Austausch signalisiert. Hier gibt es viele Anknüpfungspunkte für die weitere Zusammenarbeit», betont auch der CDU-Politiker.

Auch aus der Ukraine heisst es, dass man vor allem zwei Attribute bei Harris sehe: «Kontinuität und Berechenbarkeit». Für ein Land, das sich im Krieg befindet, ist dies angesichts der wichtigen US-Hilfe von grosser Bedeutung. Andere betonen, dass man sich auf sie verlassen könne, weil sie sehr Biden-nah sei und schon deshalb dessen Positionen teile.

Auf der Negativseite werden die mangelnde aussenpolitische Erfahrung der früheren Staatsanwältin erwähnt, die sich eher in der Migrationspolitik einen Namen gemacht hat. Und in der Bundesregierung wird darauf verwiesen, dass wie bei jedem Politiker, der aus der zweiten Reihe plötzlich in die erste tritt, ein Risiko besteht. «Dann können Schwächen und Nachteile sichtbar werden, die man vorher nicht gesehen hat», heisst es. Theoretisch könne dies auch bei Harris der Fall sein.

Offiziell wollen sich die meisten EU-Politiker noch nicht äussern. Zu gross ist die Sorge, sich in den nicht abgeschlossenen Auswahlprozess der US-Demokraten einzumischen. «Ich wünsche ihr alles Gute. Sie ist eine Frau, eine starke Frau», sagt zumindest die belgische Aussenministerin Hadja Lahbib. Sie warnte auch, das Rennen zugunsten von Trump geschlagen zu geben. «Mit Biden hätte Trump gewonnen, mit Harris haben die Demokraten zumindest eine Chance», sagt ein Regierungsvertreter in Berlin.

(Reuters)