cash.ch: Der deutsche Dax gewinnt seit Jahresbeginn 16 Prozent. Der Swiss Market Index (SMI) steht gleichzeitig nur 4 Prozent höher. Warum liegt der Schweizer Markt im Hintertreffen gegenüber den europäischen Pendants?

Mathieu Racheter: Die Underperformance des SMI gegenüber den europäischen Pendants ist im Kontext eines stabileren globalen makroökonomischen Umfelds und nachlassenden Rezessionsängsten zu betrachten, das die Anlegerinnen und Anleger zur Umschichtung in die eher zyklischeren Märkte veranlasst hat. Der Schweizer Aktienmarkt weist ein hohes Engagement in qualitativ hochwertige Unternehmen im Bereich Gesundheitswesen und defensiven Konsum auf. Er ist somit einer der defensivsten Aktienmärkte global. Nach der jüngsten Underperformance notiert der SMI gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis über zwölf Monate mit einem Abschlag zum breiten Markt trotz der überdurchschnittlichen Qualitätsmerkmale. Auch absolut gesehen liegen die aktuellen Bewertungen unterhalb des langfristigen historischen Durchschnitts. Wir sehen dies als guter Einstiegspunkt, um das Engagement im Schweizer Aktienmarkt zu erhöhen.

Was sind die nächsten Markt-Katalysatoren?

Die anlaufende Berichtssaison wird ausschlaggebend für die Aktienmarktentwicklung über die nächsten zwei bis drei Wochen sein. Unsere Frühindikatoren deuten auf eine Übertreffung der momentan tiefen Gewinnerwartungen für das zweite Quartal hin.

Warum befürchten Sie keine grossen Enttäuschungen?

Die Gewinnerwartungen für das zweite Quartal sind eher tief angesiedelt, sowohl für die USA wie auch für Europa, was die Wahrscheinlichkeit für positive Überraschungen erhöht. Der Fokus der Investoren wird sich jedoch eher auf die Unternehmensprognosen verlegen. Für das zweite Halbjahr sehen wir zwei Rückenwinde: Eine Verbesserung der Vergleichswerte. Für den S&P 500 zum Beispiel stiegen die Gewinne im ersten Halbjahr 2022 um 10 Prozent, im zweiten Halbjahr 2022 jedoch nur um 1 Prozent. Zudem dürfte sich der Dollar in der zweiten Jahreshälfte von einem Gegenwind in einen Rückenwind für US-Aktien verwandeln.

Sie sehen keine Risiken?

Das grosse Risiko geht vom anhaltenden Lohndruck aus, insbesondere in den USA. Bisher haben wir noch keine grössere Verlangsamung des Lohnwachstums gesehen, und der US-Arbeitsmarkt steht weiterhin auf einer soliden Basis. Darüber hinaus stellt die ins Stocken geratene Erholung der chinesischen Wirtschaft ebenfalls einen Gegenwind dar, allerdings mehr für europäische Aktien als für ihre US-Pendants: Nur gerade 5 Prozent der Ergebnisse im S&P 500 werden in China generiert.

Die bisherigen Halbjahreszahlen in der Schweiz bieten wie bei Novartis und Richemont Licht und Schatten. Was sind Ihre wichtigsten Beobachtungen?

Wir können folgende zwei Beobachtungen machen. Erstens, das Geschäft von Novartis ist nicht abhängig vom konjunkturellen Wirtschaftsumfeld. Somit hatte auch die nur schleppende Erholung der chinesischen Wirtschaft und die Abkühlung in den USA keinen negativen Einfluss, wie es bei Richemont der Fall war. Zweitens, die Erwartungen bei Richemont waren sehr hoch, und die Enttäuschung lag eher daran und nicht weil die Zahlen wirklich schlecht waren. Bei Novartis waren die Erwartungen eher gedämpft.

Sie sehen aktuell einen guten Einstiegspunkt, um das Engagement im Schweizer Aktienmarkt zu erhöhen. Welche weiteren Entwicklungen stützen die Kurse?

Die Inflationsentwicklung und die daraus resultierende Geldpolitik bleiben ein zentrales Thema am Aktienmarkt. Auch dafür sind wir eher zuversichtlich und rechnen mit einem Verlangsamung der Inflationsdynamik wie auch einem Rückgang der langfristigen Zinsen, insbesondere in den USA. Dies sollte den SMI beflügeln: Historisch gesehen weisen Schweizer Aktien bei sinkenden Zinsniveau relativ zu den grösseren Aktienmärkten in Europa und USA eine überdurchschnittliche Performance hin. Die grössten Risiken sehen wir zurzeit bei einer anhaltenden hohen Inflation in Verbindung mit einem verstärkten Wirtschaftsabschwung. Dies ist jedoch nicht unser Basisszenario. 

Konjunktur oder Geldpolitik: Welches Themengebiet wird die Märkte bis Ende Jahr prägen und warum?

Die Konjunkturentwicklung dürfte in der zweiten Jahreshälfte stärker im Mittelpunkt stehen, da die Neuausrichtung der Geldpolitik grösstenteils abgeschlossen ist. Das erreichte Zinsniveau bremst die Nachfrage und verringert die Inflation. Die Frage, ob die Konjunktur dies verkraften kann, dürfte die Märkte in der zweiten Jahreshälfte prägen.

Werden die Notenbanken angesichts der Konjunktureintrübung nicht bald schon einmal die Zinsen wieder senken?

Die Schwelle für Zinssenkungen in den USA und Europa dürfte recht hoch sein. Die Konjunkturentwicklung hat sich zuletzt eingetrübt. Gleichzeitig erhöht die rückläufige Inflation zusammen mit einem robusten Arbeitsmarkt und hohen Lohnsteigerungen die Kaufkraft der Konsumenten. Die geringere Inflation hat daher das Potential, in den kommenden Monaten die Nachfrage anzukurbeln. Zinssenkungen sind daher zunächst unwahrscheinlich.

Ist ein 'Soft Landing' der Wirtschaft mit dem Zinsschock überhaupt realistisch?

Der Konjunkturrückgang wegen der gestiegenen Zinsen fällt insbesondere in den USA recht moderat aus. In Europa wird die Konjunktur stärker von der schwächer als erhofften Nachfragebelebung belastet als von dem hohen Zinsniveau und der restriktiven Geldpolitik. Die Wahrscheinlichkeit eines 'Soft Landing' dürfte in den kommenden Monaten zunehmen, wenn sich der Arbeitsmarkt sowohl in den USA als auch in Europa von der negativen Konjunkturentwicklung weiterhin abkoppeln kann. Der weitverbreitete Arbeitskräftemangel spricht dafür. Mit dem hohen Beschäftigungsniveau, einem robusten Lohnwachstum, stabilen Immobilienpreisen und positiven Kapitalmärkten trägt die rückläufige Inflation zu einem verbesserten Ausblick für den privaten Konsum bei.    

Bieten sich im zweiten Halbjahr Einstiegschancen für Anlegerinnen und Anleger, die momentan aus Vorsicht an der Seite verweilen?

Ja, definitiv. Temporäre Rücksetzer während der Konsolidierungsphase über die Sommermonate sehen wir tendenziell als gute Möglichkeiten, die Aktienquote zu erhöhen. 

Auf was sollten Anlegerinnen und Anleger setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte?

Vorerst setzen wir nach wie vor auf qualitativ hochwertige Wachstumstitel, welche sich im derzeitigen Wirtschaftsumfeld weiterhin überdurchschnittlich entwickeln sollten. Unsere bevorzugten Sektoren sind Technologie und digitale Kommunikationsunternehmen.  Während wir derzeit bei den Zyklikern noch untergewichtet sind, sehen wir selektive Lichtblicke in gewissen globalen zyklischen Segmenten, wie zum Beispiel die Infrastrukturbranche, die Automobilindustrie, und auch bei führenden Halbleiter-Technologien. Dazu gehören Mercedes-Benz, Aptiv, CRH, Schneider Electric, Honeywell, Nvidia und TSMC.

Was sind im Hinblick Ihres Marktausblicks die Schweizer Gewinneraktien für das restliche Jahr 2023?

Hervorzuheben wäre zum Beispiel Alcon, die wir kürzlich in unsere Liste der Kaufempfehlungen aufgenommen haben. Das Unternehmen wird weitere Marktanteile gewinnen und profitiert auch vom Nachholbedarf bei operativen Eingriffen, die während der Pandemie nicht stattfanden. Auch bei Partners Group sehen wir Aufwärtspotenzial. Partners Group konnte kürzlich die Erwartungen zu den verwalteten Geldern Ende Juni übertreffen und der bisherige Ausblick für das zweite Halbjahr bezüglich verbesserter Investment-Aktivität und Realisationen aufgrund stabilisierender Zinsen wurde beibehalten. Zudem hält die Firma daran fest, mittelfristig wieder auf einen Wachstumspfad für die Anlagegelder von 10 bis 15 Prozent zurückkehren. Trotzdem handelt die Aktie immer noch zu einem Abschlag von 25 Prozent im Vergleich zum langjährigen KGV-Medianwert.

Wo bieten sich Gewinnmitnahmen an?

Beim SMI-Spitzenreiter Kühne+Nagel sehen wir zurzeit wenig Kurspotenzial. Ähnliches sehen wir bei ABB, die sich seit Jahresanfang sehr gut entwickelt haben. ABB hat am Donnerstag zwar ein sehr solides Q2-Ergebnis publiziert. Auftragseingang und Umsatz lagen im Rahmen der Erwartungen, der operative Gewinn war mit einer Rekordmarge besser als erwartet. Für 2023 hat ABB den Gewinnausblick erhöht und das Umsatzziel bestätigt, was die Konsensschätzungen weitgehend bestätigt. Aufgrund der hohen Bewertung und des limitierten Aufwärtspotenzials bei den Konsensschätzungen sehen wir limitiertes Potenzial für eine Outperformance der Aktie.

Welche Schweizer Titel sehen Sie im gegenwärtigen Marktumfeld als grosse Verlierer?

Wir gehen nicht davon aus, dass sich das Wirtschaftswachstum signifikant verschlechtert und sehen somit auch keine grossen Verlierer, auch wenn einige Unternehmen ihre Prognosen für das Gesamtjahr zurücknehmen oder schon zurückgenommen haben.

Welche Schweizer Aktien gehören langfristig in jedes Portfolio?

Die Schwergewichte Nestlé, Novartis und Roche gehören in ein gut diversifiziertes Portfolio mit einem Fokus auf die Schweiz.

Welche Trends sehen Sie derzeit als besonders prägend für das Wirtschaftsgeschehen? Und welche Schweizer Unternehmen profitieren davon?

Allgemein prägen derzeit Trends das Wirtschaftsgeschehen, die sehr investitionsintensiv sind. Das gilt sowohl für die Energiewende und -effizienz, die Investitionen in die Landesverteidigung, Investitionen in robustere Lieferketten sowie Investitionen in die KI-Infrastruktur. Schweizer Titel wie ABB, Accelleron und Burckhardt Compression profitieren davon. 

Mathieu Racheter ist seit 2021 Head of Equity Strategy bei der Bank Julius Bär. Zuvor war er als Schwellenländerstratege tätig. Er verfügt über einen Masterabschluss der Universität St. Gallen und ist CFA und CAIA Charterholder.

Mathieu Racheter beantwortete die Fragen schriftlich.

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