Bei einer grossangelegten Offensive des israelischen Militärs im Westjordanland sind nach palästinensischen Angaben mindestens neun Menschen getötet worden. Die Angriffe hätten vor allem den Ortschaften Dschenin und Tulkarm gegolten, teilten die Gesundheitsbehörden im von der gemässigten Fatah regierten Westjordanland am Mittwoch mit. Es ist der grösste Einsatz des israelischen Militärs dort seit Monaten. Ein Militärsprecher sagte, der Einsatz sei Folge des starken Anstiegs militanter Aktivitäten in den vergangenen Monaten. Seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen am 7. Oktober 2023 haben auch die Zusammenstösse im Westjordanland massiv zugenommen.

Israel hat seine Einsätze gegen militante Gruppen in dem im Osten an Jordanien grenzenden Palästinensergebiet seit geraumer Zeit verstärkt. Zugleich nehmen die massiven Übergriffe jüdischer Siedler auf Palästinenser erheblich zu - meist im Stil von Selbstjustiz. Die israelische Regierung, die so weit rechts steht wie keine vor ihr und der nationalistische und jüdisch-orthodoxe Parteien angehören, treibt trotz des Gaza-Krieges und der Spannungen die Siedlungspolitik im Westjordanland voran. International anerkannt ist der Bau solcher meist massiv gesicherter Siedlungen nicht.

Der Sprecher des israelischen Militärs, Nadaw Schoschani, erklärte, im vergangenen Jahr habe es in Tulkarm und Dschenin mehr als 150 Angriffe mit Schusswaffen und Sprengstoff gegeben. Das Militär sei davon ausgegangen, dass eine «unmittelbare Bedrohung» für die Zivilbevölkerung bestehe. Der Einsatz sei Teil einer umfassenden Strategie zur Vereitelung von Angriffen gewesen. «Die Terrorgefahr in dieser Gegend ist nicht neu, sie hat nicht gestern begonnen und wird nicht morgen enden», sagte Schoschani vor der Presse. Zuvor hatte das Militär die Namen fünf palästinensischer Kämpfern veröffentlicht, die es am Montag im Flüchtlingslager Nur Schams im Westjordanland getötet habe.

Die Kassam-Brigaden, also der militärische Teil der Hamas, der radikale Islamische Dschihad und die Fatah von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas teilten in getrennten Erklärungen mit, ihre bewaffneten Kräfte würden gegen das Militär kämpfen. In den betreffenden Gebieten im Westjordanland würden sie Sprengsätze gegen Militärfahrzeuge einsetzen. Der Islamische Dschihad erklärte zudem, Israel versuche, den Konflikt aus dem Gazastreifen ins Westjordanland zu tragen.

Das israelische Militär setzte Hubschrauber und Drohnen ein. Gegen Mittag war die Lage in Dschenin relativ ruhig. In dem überfüllten Flüchtlingslager am Rande der Stadt waren allerdings gelegentlich Detonationen zu hören. Das palästinensische Gesundheitsministerium teilte mit, das wichtigste Krankenhaus in Dschenin sei von Soldaten umstellt. Sie hätten den Zugang mit Erdwällen blockiert. Das israelische Militär erklärte, so solle verhindert werden, dass Kämpfer dort Zuflucht fänden.

Neben den Grossangriffen auf Dschenin und Tulkarm, zwei der labilsten Städte im nördlichen Westjordanland, attackierte das israelische Militär nach eigenen Angaben auch die Stadt Far'a in der Nähe von Tubas im Jordantal.

Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden seit Beginn des Gaza-Krieges vor fast elf Monaten im Westjordanland und in Ostjerusalem Tausende Palästinenser bei Razzien festgenommen und mehr als 660 Menschen - Kämpfer und Zivilisten - getötet. Nach israelischen Angaben wurden in diesem Zeitraum mindestens 30 Israelis bei Angriffen in Jerusalem und im Westjordanland getötet. Im Gazastreifen wurden nach Angaben der dortigen Gesundheitsbehörde seit Kriegsbeginn bei israelischen Angriffen mindestens 40.534 Menschen getötet. Mindestens 93.778 Palästinenserinnen und Palästinenser seien verletzt worden.

Dort gingen die Angriffe des israelischen Militärs unvermindert weiter. Panzer drangen weiter in Chan Junis im Süden des Gazastreifens vor. Einwohner der Stadt berichteten, die Panzer hätten das Zentrum erreicht und das Militär habe im Osten Evakuierungen angeordnet. Viele Familien seien daraufhin gezwungen gewesen, sich in grösster Eile in Sicherheit zu bringen. Andere sässen in ihren Wohnungen fest. Auch im zentral gelegenen Deir al-Balah, wo mindestens eine Million Menschen Schutz suchen, gab es Rettungskräften zufolge Luftangriffe.

Nicht nur im Westjordanland und im Gazastreifen gab es Angriffe. Bei einem israelischen Drohnenangriff auf ein Auto an der syrisch-libanesischen Grenze wurden Insidern zufolge vier Menschen getötet. Dabei soll es sich um drei Kämpfer des Islamischen Dschihads und ein Mitglied der libanesischen Hisbollah-Miliz handeln. In dem Fahrzeug seien keine Waffen transportiert worden. Die Hisbollah und die Hamas gehören zur vom Iran geführten Achse des Widerstandes, wie auch militante Gruppen in Syrien, das als Transitland Richtung Libanon gilt. 

(Reuters)