cash.ch: Herr Lin, die Anfänge von Künstlicher Intelligenz (KI) reichen weit ins 20. Jahrhundert zurück. Doch warum ist KI in jüngster Vergangenheit so stark aufgekommen?

Jeffrey Lin: Tatsächlich begannen Informatiker in den 1950er und 1960er Jahren, über KI nachzudenken. Doch jahrzehntelang fehlte die Rechenleistung - wir messen die Leistung eines KI-Prozessors in Tera-Operationen pro Sekunde. Die Zahlen sind in den letzten Jahren astronomisch geworden. Im Jahr 2017 hatten einige der Nvidia-Prozessoren 8 bis 12 Tera-Operationen pro Sekunde. In den neuen KI-fähigen Computern sind es 35 Tera-Operationen pro Sekunde.

Also kommt es letztlich darauf an, wie viel Rechenleistung vorhanden ist - wirklich?

Ja - und heute verfügen wir über mehr Rechenleistung als je zuvor. Deshalb breitet sich die Technologie derzeit rasant aus. Es gibt jedoch bereits frühere technologische Entwicklungen, die KI unterstützen - zum Beispiel Cloud Computing und Hochgeschwindigkeitsdatenkommunikation.

Was spricht dafür, dass sich die Technologie in diesem Tempo weiterentwickelt?

Schauen wir uns Nvidia an. Das Unternehmen ist dazu übergegangen, neue Produkte etwa alle zwölf Monate einzuführen - sechs Monate schneller, als wir es bisher gewohnt waren. Insofern beschleunigt sich Nvidia tatsächlich. Wir sind daher zuversichtlich, dass sich die Leistung weiter verbessern wird. Darüber hinaus verfügt das Unternehmen über Experten in verschiedenen vertikalen Märkten für seine Technologie und ist breit aufgestellt. Es gibt Leute, die sich zum Beispiel mit Biowissenschaften, aber auch mit fortgeschrittener Kommunikation und der Öl- und Gasexplorationsindustrie auskennen. Sie haben also viele Leute, welche die Computeranforderungen ihrer Kunden verstehen. Das ist ein nachhaltiges Geschäftsmodell.

Was könnte die Entwicklung Künstlicher Intelligenz verlangsamen oder sogar stoppen?

Es gibt ein paar Dinge, zum Beispiel: Wollen es die Konsumenten überhaupt? Wollen die Konsumenten die Technologie? Finden sie diese nützlich? Das ist entscheidend. Es wird eine Marktnachfrage geben, wenn die Dinge einfacher und kostengünstiger werden. Aus technischer Sicht ist die Grösse von Halbleitern eine Herausforderung.

Inwiefern?

In den 1990er-Jahren sprach man noch von Mikrometern, heute geht es bei Halbleitern um wenige Nanometer. Es gibt also einige physikalische Grenzen, wie klein man diese Dinge machen kann. Die Frage ist, ob man immer mehr Leistung auf immer kleinere Geräte packen kann. Vielleicht kann die Quantentechnologie die Leistung in Zukunft verbessern. Diese Technologie ist jedoch noch nicht kommerziell.

Was sind die Unterschiede zwischen der heutigen Situation und der Dotcom-Blase, die zu Beginn des Jahrtausends platzte?

Das Umsatzwachstum. In vielen Unternehmen - zum Beispiel Nvidia oder IBM - gibt es ein starkes Muster für Umsatzwachstum und Rentabilität durch KI. Bis ins Jahr 2025 werden die Einnahmen aus Rechenzentren um mehr als das Hundertfache seit 2017 gestiegen sein und sich der 100-Milliarden-Dollar-Marke nähern. Es gibt da also echte Einnahmen, die von Unternehmen mit starken Cashflows stammen. Dies steht im Gegensatz zur Situation am Anfang des Jahrtausends. Damals wollten viele Unternehmen im Internet Geld verdienen. Doch sie waren nicht so umsatzstark und nicht so profitabel, wie die Märkte es zuvor erwartet hatten. Also platze die Blase.

Sie schätzen das wirtschaftliche Potenzial Künstlicher Intelligenz auf mehrere Billionen Dollar pro Jahr. Wie begründen Sie diese Schätzung?

Diese Schätzung stammt aus Marktforschungen von McKinsey und Accenture. Und wir halten diese Zahl für plausibel. Allerdings denken wir etwas mehr von unten nach oben über die Chancen nach. Nehmen wir das Beispiel Fahrdienstgemeinschaften versus autonome Taxis. Durch den Umstieg auf autonomes Fahren würden die Kosten für den Konsumenten sinken - was die Nachfrage steigert und den Markt wachsen lässt. Die gleiche Logik gilt für viele andere Märkte, vom Finanzwesen bis zur Gesundheitsbranche. Und das beläuft sich insgesamt auf wirtschaftliche Auswirkungen von mehreren Billionen Dollar.

Wie können Anleger vom Aufkommen Künstlicher Intelligenz profitieren?

Grundsätzlich gilt: Wenn ein Unternehmen oder eine Technologie bei hohen Gewinnmargen grösser wird, steigt der Wert. Genauer gesagt gibt es KI-ermöglichende Unternehmen wie Arista, Broadcom und Nvidia. Sie haben recht gut von der frühen Phase der KI profitiert und verzeichnen Umsatzwachstum und Gewinnmargen. Ansonsten denken wir an die Anbieter, zum Beispiel Adobe. Sie liefern Unternehmenssoftware mit KI-Funktionen. Diese Unternehmen sind bereits sehr profitabel und wachsen gut. Sie können mehr verlangen und pflegen gute Beziehungen zu ihren Kunden. So steigt der «Customer Lifetime Value» - der Wert, den ein Kunde während seines Daseins realisiert. Daher gehen wir davon aus, dass ihre Bewertungen Auftrieb erhalten. Dann denken wir an Unternehmen ausserhalb der Kerntechnologie, die KI strategisch nutzen, um ihre Abläufe und Dienstleistungen für Kunden zu verbessern - denken Sie an Gesundheitsunternehmen oder Automobilhersteller. Diese Unternehmen dürften ein besseres Umsatzwachstum und eine bessere Gewinnspanne erzielen, was wiederum einen Mehrwert für die Anleger schafft.

Nvidia ist auf dem Vormarsch. Gibt es andere Aktien, die aufgrund von Künstlicher Intelligenz besonders lukrativ sind?

Lassen Sie mich das veranschaulichen: Unternehmen können die Technologie nutzen, um grosse Sprachmodelle für ihre eigene Software oder Kundenbeziehungen zu erstellen. Diese Firmen werden zu einer Art Land. Sie haben ihren eigenen Dialekt, eine eigene Art und Weise, wie sie Dinge tun und wie sie sprechen und interagieren. Dadurch sollten sie eine bessere Leistung erbringen. Wir glauben also, dass dies gute Orte für Investoren sind.

Können Sie ein Beispiel geben?

Ein gutes Beispiel ist John Deere, ein Industrieunternehmen. Es hat bereits einen autonomen Traktor, der mit einer Kamera durch ein Feld fahren kann. Er interagiert aus der Ferne mit dem Landwirt und kann feststellen, ob eine Pflanze auf dem Feld erwünscht ist oder nicht. Dementsprechend wird sie mit Pestiziden besprüht oder nicht. Dieser automatisierte Prozess erhöht die Produktivität.

Welche europäischen und insbesondere Schweizer Unternehmen profitieren von Künstlicher Intelligenz und sind deswegen für Anleger eine Überlegung wert?

Es gibt tatsächlich einige Unternehmen. SAP ist eines davon, ein dominantes Softwareunternehmen mit sehr starken Umsätzen. Es integriert KI in seine Software und ist also ein Technologieanbieter. Sicherlich ASML - das Unternehmen hat durch die Bereitstellung fortschrittlicher Halbleiter eine Schlüsselrolle in der Halbleiterherstellung gespielt. Wenn wir nach Asien blicken, gibt es noch andere. Es gibt wieder andere in Japan. Auch in China gibt es welche. Es gibt also rund um den Globus Investitionsmöglichkeiten.

Was ist für Aktionäre in Bezug auf die Rendite möglich?

Wir können nicht über eine bestimmte oder erwartete Rendite sprechen. Aber wenn der Markt und die Rechenleistung wachsen, wächst auch der Markt für Computing und Datenverarbeitung. Dies führt zu höheren Wachstumsraten für die daran beteiligten Unternehmen. Und wenn es klappt, verzeichnen die Unternehmen über mehrere Jahre hinweg hohe Wachstumsraten, die zu guten Anlagerenditen führen dürften.

Welche Rückfallrisiken sehen Sie bei den Aktien?

Viele Unternehmen diskutieren auf Vorstandsebene darüber, wie sie KI einsetzen wollen. Letztendlich müssen sie womöglich das gesamte Unternehmen umgestalten, was Zeit und Geld kostet. Ansonsten: Über die Regulation wird recht viel diskutiert. Hier sollte ein Gleichgewicht herrschen. Vorschriften sollen die Menschen schützen, aber auch die langfristigen Wachstumschancen wahren. Dieser Ausgleichsprozess ist noch im Gange.

Was halten Sie von der neuesten Regulierung der Europäischen Union?

Wir sehen darin kein Hindernis für die technologische Entwicklung. Sie legt Grundregeln fest. Und das ist wichtig, denn die breite Bevölkerung muss Vertrauen in die Technologie haben. Und es ist äusserst wichtig, dass es Vorschriften gibt und die Unternehmen Verantwortung übernehmen.

Was ist mit Cyber-Angriffen als Risiko für Unternehmen, die sich mit KI befassen?

Auch Cyberkriminelle können KI nutzen. Sie könnten damit beispielsweise Ihre Stimme nachbilden. Der Gegenpol dazu ist allerdings auch Künstliche Intelligenz. Viele der führenden Sicherheitsanbieter nutzen bereits KI, um vielen dieser Probleme entgegenzuwirken. Cybersicherheit ist schon seit Langem ein Thema. Dies hat die Technologieentwicklung nicht verlangsamt. Aber es entstehen Kosten, die man tragen muss, um den auftretenden Bedrohungen entgegenzuwirken.

Welche Alternativen gibt es, wenn sich das Gewinnwachstum von Technologieunternehmen bald verlangsamt?

Dann können Investoren in Nicht-Technologiesektoren wechseln, die von Künstlicher Intelligenz profitieren. Denken Sie an Banken. Diese können KI in verschiedenen Bereichen einsetzen. An der Front können sie den Kundenservice verbessern; im Backoffice können sie Abläufe ankurbeln. Wenn zum Beispiel eine Bank weiss, dass eine Familie ein kleines Kind hat, kann sie leicht einen Sparplan für das Studium erstellen. Oder sie bietet ein massgeschneidertes Hypothekenprodukt an, wenn die Familie gewillt ist, ein Haus zu kaufen. Im Allgemeinen werden Unternehmen, die KI nutzen, einen Wettbewerbsvorteil haben. Und Unternehmen, welche die Technologie nicht nutzen, werden mit der Zeit ins Hintertreffen geraten.

Jeffrey Lin ist seit Januar 2023 Head of Thematic Equities bei M&G Investments, einer internationalen Investmentgesellschaft. Bevor er zu M&G kam, sammelte er rund dreissig Jahre Erfahrung in der Finanzbranche.

Reto Zanettin
Reto ZanettinReto Zanettin ist seit April 2024 Redaktor bei cash.ch. Zuvor war er während fünf Jahren Inlandredaktor bei den «Schaffhauser Nachrichten» sowie in der Kommunikationsbranche tätig. 2007 schloss er das Studium an der Universität St. Gallen (HSG) als Master of Arts ab.Mehr erfahren