cash.ch: Herr Bailer, wie würden Sie die aktuelle Marktsituation in einfachen Worten beschreiben?

John Bailer: Das Wirtschaftswachstum in den USA verlangsamt sich - das hören wir von den Unternehmen, mit denen wir sprechen, und wir sehen es an den Wirtschaftsdaten.  Die Inflation zeigt Anzeichen einer Abschwächung, ist aber immer noch viel höher als in den zehn Jahren vor der Pandemie. In der Zwischenzeit bewegt sich die US-Notenbank mit ihrer Geldpolitik auf einem schmalen Grat, da sie versucht, die Inflation unter Kontrolle zu bringen und gleichzeitig zu vermeiden, dass die Wirtschaft in eine vollständige Rezession gerät - was als 'weiche Landung' bezeichnet wird. Die Aktienmärkte in den USA scheinen eine 'Mauer der Besorgnis' zu erklimmen. Sie steigen trotz der sich abschwächenden Wirtschaftsdaten und der Gefahr einer Rezession weiter an. Ich möchte anmerken, dass die jüngste Stärke der Aktienmärkte eine sehr enge Führung hatte - was bedeutet, dass einige wenige Namen den breiteren Markt nach oben treiben und nicht eine breit angelegte Stärke über viele Unternehmen und Sektoren.

Wie werden sich Ihrer Meinung nach Inflation und Wachstum in Zukunft entwickeln?

Wir glauben, dass es mehrere Faktoren gibt, die die Inflation in naher Zukunft auf einem hohen Niveau halten werden. Auf der strukturellen Seite müssen sich viele Unternehmen nach fast 15 Jahren extrem akkommodierender Geldpolitik schnell auf höhere Kreditkosten einstellen. Wir haben bereits erlebt, dass eine Reihe von Unternehmen, deren Geschäftsmodell auf 'billigem Geld' beruht, in diesem Jahr dem Mangel daran erlegen sind. Auf der säkularen Seite werden Faktoren wie Deglobalisierung, Dekarbonisierung, Verteidigungsausgaben und eine Steuerpolitik, die darauf abzielt, die Wohlstandskluft zu schliessen, die Inflation ebenfalls längerfristig nach oben treiben. 

Was impliziert diese Entwicklung für das Wachstum?

Auf der Wachstumsseite ist es schwierig, ein allzu optimistisches Bild zu zeichnen, da die Zentralbanken aggressiv daran arbeiten, dem System Liquidität zu entziehen und die Wirtschaft zu bremsen, um die Inflation zu bekämpfen. Die Geldpolitik kann zur Förderung des Wachstums und zur Bekämpfung der Inflation eingesetzt werden, aber selten kann sie beides gleichzeitig tun. Im Moment ist klar, dass die Zentralbanken die Inflation auf Kosten des Wirtschaftswachstums bekämpfen wollen.

Wie steht es um die Gesundheit der US-Konsumenten?

Ich mache mir Sorgen um die Gesundheit der US-Konsumenten. Denn die Steuerprogramme, die während der Pandemie aufgelegt wurden und den Konsumenten geholfen haben, laufen jetzt aus. Jamie Dimon, CEO von JPMorgan, ist der Meinung, dass die Wirkung bis Ende dieses Jahres verpufft sein wird.

Warum sollte ein Anleger jetzt in den US-Aktienmarkt investieren, wo eine Rezession in den USA absehbar ist?

Bestimmte Bereiche des US-Marktes sind aufgrund der wirtschaftlichen Sorgen attraktiv bewertet. Die Sorge vor einer Rezession hat gute Kaufgelegenheiten im Energiesektor geschaffen. Dieser kann unserer Meinung nach besser abschneiden als erwartet. 

Der Markt hat sich aber dieses Jahr bisher gut geschlagen. Sind US-Aktien bereits wieder teuer?

Der US-Markt sieht im Vergleich zu Europa teuer aus. Unter der Oberfläche gibt es den Bereich des Marktes, wo die teuersten Aktien zu finden sind. Dazu gehören viele Tech-Aktien, die nur wenig Cashflow generieren. Diese sind meist Small Caps. Und dann gibt es viele günstige Aktien. Viele davon gehören zum Finanz- und Energiesektor. Der günstigste Fünftel des S&P 500 handelt zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 10. Dieser Teil des Markts erscheint relativ günstig im historischen Vergleich.

Wo bieten sich am US-Aktienmarkt konkret Chancen?

Der Energiesektor ist ein Bereich, der uns interessiert. Diese Unternehmen haben viel Cash in ihren Bilanzen. Viel mehr, als sie je gehabt haben. Und mit den aktuellen Ölpreisen generieren sie viel freien Cashflow, den sie an die Aktionäre in Form von Dividenden auszahlen können. Und das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach dem schwarzen Gold ist sehr gut, so dass die Preise für längere Zeit hoch bleiben werden.

Wird das rückläufige Wachstum und die sinkende Inflation nicht auf dem Ölpreis lasten?

Ohne Zweifel sind die Preise ein bisschen zurückgekommen. Dies hat aber mehr mit Akteuren am Finanzmarkt zu tun, nicht mit der Realwirtschaft. Die Lagerbestände gehen zurück und die Nachfrage aus China nimmt mit der dortigen wirtschaftlichen Erholung zu.

Sie empfehlen Energieaktien wegen der Dividende. Bieten diese Aktien auch Chancen auf Kursrenditen?

Viele schrecken vor einem Investment wegen ESG ab. Aber die Explorations- und Produktionsunternehmen investieren überhaupt nicht in neue Kapazitäten für fossile Brennstoffe. Und diese Verknappung des Angebots treibt die Ölpreise zukünftig höher, was den Aktienkursen zugute kommen wird.  Die Unternehmen, die uns am meisten interessieren, sind diejenigen mit Anlagen ausserhalb des amerikanischen Kontinents, wo wir eine Verschlechterung der Bohrlochproduktivität feststellen.

Wie stehen Sie zu Big Pharma, die als krisenresistent gelten?

Das politische Risiko ist geringer als vor früheren Präsidentschaftswahlen. Auch generiert der Sektor stabile Cashflows, der in Form von Dividenden ausgezahlt wird.

Sehen Sie weitere Sektoren, die derzeit mehr Chancen als Risiken bieten?

Ja, Finanztitel sind derzeit interessant. Wir sind keine Fans von Banken im Allgemeinen, aber von einer im Speziellen: JPMorgan ist im Sektor unsere grösste Position. Die Grossbank hat viel Cash in der Bilanz und profitiert von höheren Zinsen. Auch viele Versicherungsunternehmen in den USA sind gut positioniert. Banken und Versicherungen sind Bereiche, die von einer höheren Inflation und höheren Zinsen profitieren.

Aber die US-Notenbank Fed könnte dieses Jahr bereits die Zinsen wieder senken, was Finanz-Titel belasten könnte. Wie stehen Sie dazu?

Klar, idealerweise würden die Zinsen für die Banken auf den aktuellen Niveaus verweilen. Zudem könnte es eine grosse Überraschung dieses Jahr sein, dass die Fed die Zinsen nicht senken wird und diese länger auf dem hohen Niveau verweilen. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario ist unserer Meinung nach ziemlich hoch.

Dies wird doch sicherlich eine deutliche und negative Marktreaktion zur Folge haben?

Es gibt eine Verschiebung dahingehend, was am Markt belohnt wird. Viele grossen Tech-Unternehmen, die von der Annahme sinkender Zinsen profitiert haben, werden ihre dadurch erlangten Gewinne abgeben. Rohstoff-Aktien und Finanz-Titel dürften hingegen besser abschneiden.

Welche anderen Markt-Risiken sehen Sie am Horizont?

Gewerbeimmobilien in den USA sehen kritisch aus. Daher sollte man auch Banken, die dort stark engagiert sind, meiden. Auch der Immobilienmarkt generell bietet derzeit wenig Perspektiven. Aus einem ganz einfachen Grund. Bei diesem geht es nur um Zinsen. Gehen letztere hoch, sind Immobilen weniger wert. Wir sind aber auch bei Unternehmen, die im digitalen Werbemarkt unterwegs sind, vorsichtig. Viele Unternehmen haben mit einem nicht nachhaltigen Geschäftsmodell in den letzten Jahren Geld erhalten und dieses auch in Werbung investiert. Das geht jetzt nicht mehr. Man muss sich als Investor jetzt auf Unternehmen konzentrieren, deren Kunden nicht vom billigen Geld profitiert haben.

Für welchen Sektor sind hohe Zinsen ebenso kritisch?

Ich sorge mich um jeden Sektor, der von tiefen Zinsen profitiert hat. Und Versorger gehören zu dieser Kategorie. Zudem haben diese Unternehmen hohe Ausschüttungsquote. Ein grosser Teil des Cashflows geht in die Dividenden. Dies gilt ebenso für REITs.

Wie würden Sie Ihre Investmentstrategie umschreiben?

Wir haben schon immer alles daran gesetzt, die Wertfalle zu umgehen. Wir suchen Unternehmen, die nicht gemessen am intrinsischen Wert gehandelt werden und Momentum aufweisen. Zudem sind gute Fundamentaldaten wie starke Bilanzen zwingend. Die Unternehmen können schlussendlich ihren intrinsischen Wert realisieren, obwohl die Wirtschaft leidet. Und eine der besten Hinweise auf Momentum bietet das Dividendenwachstum. Denn wenn ein Unternehmen die Dividenden anhebt, hat das Management grosse Zuversicht in die zukünftigen Cashflows.

Die Inflation wird ihrer Prognose zufolge hoch bleiben. Wie wichtig ist das Kriterium 'Preissetzungsmacht' für die Anlagestrategie?

Die Preissetzungsmacht ist in bestimmten Branchen zu berücksichtigen. Rohstoffunternehmen können beispielsweise in einem Umfeld, in dem die Inflation länger anhält, sehr gut abschneiden. Beim aktiven Management geht es darum, diese Unterschiede zu verstehen.

Dieses Interview entstand im Rahmen einer Medienreise, zur der BNY Mellon eingeladen hatte.
 

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