Seit einem Jahr macht das Thema Rezession an den amerikanischen Finanzmärkten mit stark divergierenden Meinungen die Runde. Das Lager der Bullen ist felsenfest davon überzeugt, dass eine weiche Landung gelingt und goldene Zeiten an der Börse anbrechen. Das Lager der Bären verteidigt mit anderen Argumenten das Gegenteil und sieht eine Rezession aufziehen, weil sich die höheren Zinsen erst verzögert auf die Wirtschaft auswirken.

Die inverse Zinskurve ist das Hauptargument der Bären, weshalb der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt eine Rezession bevorsteht. Eine inverse Zinskurve bedeutet, dass die kurzfristigen Zinssätze höher liegen als die langfristigen Renditen. Ab Eintritt einer inversen Zinskurve dauert es im Normalfall 12 bis 24 Monate, bis der Wirtschaftsabschwung deutlich an Fahrt aufnimmt. Am amerikanischen Geld- und Rentenmarkt ist diese nun seit 16 Monaten invers.

Wie Daten von Piper Sandler um deren Chefstrategen Michael Kantrowitz zeigen, kann es allerdings auch länger als 24 Monate dauern. Nach der grossen Finanzkrise 2007 dauerte es fast 33 Monate, ehe die US-Wirtschaft in eine Rezession abdriftete - siehe untenstehende Grafik. 

Es ist noch zu früh, um eine allfälligen Rezession in den USA abzuschreiben.

Es ist noch zu früh, um eine allfälligen Rezession in den USA abzuschreiben.

Quelle: "Piper Sandler"

Wie schwierig es ist, den Eintrittszeitpunkt einer Rezession zu bestimmen, schrieb der Macro-Stratege Alfonso Peccatiello, Gründer von The Macro Compass, in seinem Blog vor Wochenfrist. Er habe den positiven Einfluss der US-Budgetdefizits auf die Konjunktur weitgehend unterschätzt und die Verschuldung des privaten Sektors zu wenig berücksichtigt. Bisher ging er von einer Rezession im Sommer 2023 aus. Es fühle sich nun etwas komisch an, immer noch mit einem Abschwung zu rechnen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass dies eintritt, inzwischen grösser und nicht geringer geworden ist. Die Märkte können zuweilen hart zu den Investoren sein, erklärte Peccatiello weiter. 

Goldlöckchen-Szenario und Jahresend-Rally

Auf der anderen Seite führen die optimistischen Strategen an, dass die Landung nicht nur weich, sondern vorzüglich gelingen könnte - die Inflation ist rückläufig, die relevanten Wirtschaftsindikatoren zeigen eine moderate Abschwächung und die vorauslaufenden Indikatoren für das vierte Quartal bestätigen dies. Entsprechend hat sich der Begriff «Goldilocks» oder Goldlöckchen-Entwicklung etabliert und beschreibt dieses immer populärer werdende Szenario. 

Zudem dürften von jetzt an die Unternehmensergebnisse und saisonalen Muster die Aktienmärkte unterstützen, meint Christian Gattiker, Head of Research bei der Bank Julius Bär. «Natürlich hat das technische Bild bei Aktien mit dem heftigen Ausverkauf im Oktober Schaden genommen. Doch das ist kein Grund, die Jahresendrally für 2023 abzublasen. Die Berichtssaison trägt und die Saisonalität hilft ab sofort.»

Fundamental sticht vor allem die Besserung bei den Quartalsberichten hervor. Während zu Beginn der Berichtssaison noch eine Fortführung der Gewinnrezession zu befürchten war, hat das Gewinnwachstum nun zum ersten Mal seit drei Quartalen wieder ins Plus gedreht. Saisonal sollte der hartnäckige Abwärtsdruck auf die Aktienmärkte endlich abnehmen, weil Ende Oktober der Stichtag für steuerbedingte Gewinnmitnahmen in den USA erreicht war, so Gattiker. 

Steht der nächste Super-Bullenzyklus vor der Tür?

Die New Yorker Finanzboutique Richard Bernstein Advisors (RBA) geht noch einen Schritt weiter und meint, dass das jetzige Niveau eine Kaufgelegenheit sei, die nur einmal pro Generation auftrete. «Unserer Ansicht nach kommt es mit der Wirtschaft nicht wirklich zu einer Landung. In Anlehnung an die Flugzeugmetapher sehen wir vielmehr steigende Gewinne. Die Anleger sollten ihre Sicherheitsgurte anlegen und sicherstellen, dass sie investiert sind.»

Die Bedeutung von Gewinnzyklen ist im Vergleich zu Konjunkturzyklen deutlich wichtiger, da die Aktienmärkte stärker von Gewinnen als vom gesamtwirtschaftlichen Wachstum beeinflusst werden. Obwohl die globalen Aktienmärkte bis zum Jahr 2023 eine Gewinnrezession erlebten, dürfte das Gewinnwachstum im Jahr 2024 gesunden. «Auch wenn es lächerlich simpel klingen mag, müssen Anleger bedenken, dass der Gewinnzyklus immer von zyklischen Faktoren beeinflusst wird. Unternehmen mit stabilem Wachstum sind genau das: stabil, und diese inhärente Stabilität kann mathematisch nicht dazu führen, dass ein Auf- oder Abschwung auftritt.»

Aktienauswahl ist dabei entscheidend

Sieben Aktien, die sogenannten magischen Sieben (Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla) dominierten die Performance des S&P 500 während im laufenden Jahr - dem wohl engsten Markt in der Karriere der meisten Anleger. Die Untersuchungen zeigen seit langem, dass enge Märkte wirtschaftlich gerechtfertigt sind, wenn das Wachstum selbst gering ist - beispielsweise während einer Gewinnrezession, weil sich die Anlegerinnen und Anleger zu den wenigen Unternehmen hingezogen fühlen, die ein erhebliches Wachstum erzielen können, so RBA. 

Vor dem Hintergrund der allgemein konservativen Aktienbewertungen konzentrieren sich die Portfolios der Anleger deshalb weiterhin überwiegend auf die Valoren der magischen Sieben. Das Risiko besteht nun aber darin, dass ähnlich wie nach der Deflation der Technologieblase im Jahre 2000, den Anlegern ein weiteres «verlorenes Jahrzehnt bei Aktien» bevorsteht. Von 2000 bis 2009 erzielte der S&P 500 geringfügig negative Renditen und Technologieaktien litten stark, aber Segmente wie Energie und Schwellenländer entwickelten sich sehr gut.

Dementsprechend gleichen die globalen Aktienmärkte einem Pendel, das nun von der einen Seite mit den magischen Sieben auf die andere Seite zurückschlagen könnte - also dort, wo sich alle anderen Aktien befinden. Für die RBA-Strategen ist klar, dass die Gewinne und Konjunkturzyklen bei allen anderen Unternehmen stärker als erwartet sind. «Deshalb lassen die Gewinnerwartungen und Bewertungen in Kombination mit den kurzsichtigen Ansichten der Anleger über die magischen Sieben auf eine generationsübergreifende Anlagemöglichkeit in den breiteren globalen Aktienmärkten schliessen.»

Thomas Daniel Marti
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