cash.ch: Der starke Rückgang des Euros zum Franken hat letzte Woche viele Marktteilnehmer überrascht. Weshalb?

Ulrich Leuchtmann: Wir haben schneller als erwartet Konjunktursorgen weltweit bekommen. Mit dem schlechteren Arbeitsmarkt in den USA wachsen auch die Sorgen, dass die Konjunktur im Rest der Welt, auch hier in Europa, nicht mehr so gut läuft. Und das ist natürlich etwas, was die Frankenaufwertung begünstigt. 

Die Konjunktur in den USA scheint aber immer noch recht robust. Hat der Devisenmarkt übertrieben?

Mit diesem zunehmenden Pessimismus ist es für die Marktlogik schon klar, dass wir solche sehr deutlichen Wechselkursreaktionen sehen. Diese dürften aber keinen Bestand haben. Wir werden voraussichtlich keine Euro-Franken-Kurse im Bereich 92 Rappen oder vielleicht noch tiefer tatsächlich dauerhaft sehen. Aber wenn der Markt so nervös ist, ist es nur logisch, dass es kurzfristig zu solch heftigen Reaktionen kommt.

Aus Schweizer Sicht besteht wegen der schwachen Konjunktur in Deutschland und den politischen Unsicherheiten in Frankreich schon die Sorge, der Euro könnte bald zum Franken unter 90 Rappen fallen.

Handelsgewichtet ist da überhaupt nichts von Euro-Schwäche zu sehen, entsprechend sehen wir keine jubelnden europäischen Exporteure. Gegenüber den meisten Handelspartnern ist der Euro so stark wie nie. Es gilt hier klar zu unterscheiden und es gibt viele Kritikpunkte, ich verstehe auch die Sorgen. Insofern teile ich diese Meinung auch bis zu einem gewissen Grad. Aber: Was wir wirklich sehen, ist eine extreme Stärke im Schweizer Franken und wir sehen immer noch einen sehr starken Dollar. 

Die erwarteten Zinssenkungen in den USA und Europa sprechen für einen stärkeren Franken?

Vom Timing her dürfte die Fed jetzt relativ schnell mit Zinssenkungen anfangen. Diese Zinssenkungsfantasie war in den letzten Tagen aber ein bisschen übertrieben. Ich glaube nicht an eine US-Rezession und an viele Zinssenkungen. Vielmehr sehen wir einfach eine Normalisierung, also niedrigere Zinsen in den USA und auch weitere Zinssenkungen durch die Europäische Zentralbank (EZB). Und das ist halt momentan der Vorteil des Frankens. Bei einem Leitzinsniveau von 1,25 Prozent kann die Schweizerische Nationalbank (SNB) noch ein- oder zweimal senken.

Kommen dann wieder Negativzinsen?

Nein, die SNB wird dieses Experiment mit negativen Zinsen wohl nicht wiederholen. Mit ein bei zwei Zinssenkungen wird die SNB ihrer eigenen Währung weit weniger schaden als die Fed oder die EZB mit ihrem Zinsinstrument. Und das ist das Gute am Franken.

Kann die EZB wegen der hartnäckigen Inflation überhaupt deutlich senken?

Es ist natürlich immer die Frage, wie sehr sich die EZB auf die Inflationsbekämpfung fokussiert oder sie die Konjunkturentwicklung im Auge hat. Wegen der schleppenden Konjunktur in der Eurozone ist es für die EZB in dieser Beziehung schwerer als für andere Zentralbanken. Deshalb sind die Sorgen da und es ist sicherlich ein Belastungsfaktor für den Euro. Aber im Grunde gesagt einer, der schon lange besteht. Ich glaube, der Euro ist schon seit vielen Jahren recht billig - und ist es immer noch. 

Sehen Sie den Wechselkurs des Frankens zum Euro wieder steigen?

Ja - also naja, sagen wir es so: Wenn wir tatsächlich in den Bereich einer globalen Rezession kommen würden, dann wären sicherlich auch diese niedrigen Niveaus oder vielleicht sogar noch tiefere Niveaus des Euro zum Franken gerechtfertigt. Wenn wir aber tatsächlich eine einigermassen moderate Konjunkturentwicklung im Euroraum sehen - also nicht fantastische Wachstumsraten, aber doch zumindest etwas, was deutlich nicht Rezession ist oder sich nicht wie Rezession anfühlt aus Sicht der EZB, dann glaube ich, sind wir in einem Bereich von 0,95 Franken bis zur Parität ganz gut aufgehoben.

Das würde heissen, dass die Volatilität zurückgeht?

Beim Währungspaar Euro-Franken ja. Bei den anderen Währungspaaren bleibt die Volatilität aber wohl relativ hoch wegen der unterschiedlichen Inflationsentwicklung. Wir haben unterschiedliche Reaktionen der Zentralbanken auf diese, das erhöht die Zinsdifferenzen und macht diese halt auch volatiler. In der ersten Jahreshälfte dieses Jahres war ja relativ wenig los an den Devisenmärkten insgesamt. Ich glaube, dass wir in der zweiten Jahreshälfte und auch im nächsten Jahr wahrscheinlich etwas höhere Volatilität bekommen. Also nichts Exzessives wie während der Pandemiezeit, aber schon höher.  

Eine Entlastung für die Schweizer Exporteure ist das nicht wirklich?

Die Schweizer Exporteure können damit umgehen, weil sie einen starken Franken schon immer gewohnt sind. Und deshalb nicht in Bereichen arbeiten, in denen sie hauptsächlich über den Preiswettbewerb Vorteile erlangen, sondern über andere Faktoren wie zum Beispiel die Produktqualität. Deshalb halten die das besser aus. Aber angenehm ist das natürlich nicht, und deshalb geht das viele Stöhnen momentan weiter.

Viele Exporteure halten den Franken für überbewertet...

Nun, diese Aussage gilt es zu relativieren. Seit Anfang 2020 hat sich der Schweizer Franken gegenüber dem Euro um fast 15 Prozent und gegenüber den Handelspartnern der Schweiz um mehr als 18 Prozent aufgewertet basierend auf dem nominalen effektiven Wechselkurs. Die 18-prozentige Aufwertung belastet die Schweizer Exporteure und jene Schweizer Unternehmen nicht, die mit Importen konkurrieren. Zumindest nicht signifikant. Denn die Entwicklung des Schweizer Frankens ist kaum mehr als ein Ausdruck der Tatsache, dass die Schweiz als fast einzige Volkswirtschaft der Welt dem globalen Inflationsschock weitgehend entgangen ist.

Ist also die Kaufkraft entscheidend?

Wenn die interne Kaufkraft anderer Währungen schneller erodiert, ist es nur logisch, dass auch ihre Kaufkraft auf dem Devisenmarkt gegenüber dem Franken erodiert. Bereinigt um diese Inflationsunterschiede wird der nominale effektive Wechselkurs zum realen effektiven Wechselkurs. Dieser stieg im gleichen Zeitraum nur um 4,6 Prozent - fast genau so viel wie der reale effektive Wechselkurs des Euro. Das bedeutet, dass es, abgesehen von der Tatsache, dass die Schweiz dem Inflationsschock nach der Pandemie weitgehend entgangen ist, keine Hinweise auf eine übermässige Frankenstärke gibt. Und solange die Verbraucherpreise ein geeigneter Proxy für die inländischen Inputpreise der inländischen Produzenten sind, ist der reale effektive Wechselkurs das Mass, das uns sagt, wie sich Wechselkursbewegungen auf die Preiswettbewerbsfähigkeit der Schweizer Exporteure auswirken. Also nicht signifikant in diesem Fall für den Moment. 

Ulrich Leuchtmann ist seit 2008 Leiter Research Devisen und Commodities bei der Commerzbank in Frankfurt. Er verfügt über 20 Jahre Erfahrung im Bereich Festverzinsliche und Devisen-Anlageverwaltung. Seit 2016 ist er auch verantwortlich für Commerzbank Emerging Markt Research.

Thomas Daniel Marti
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