Nach der geldpolitischen Wende vom Juni dürfte der EZB-Rat um Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag den zweiten Schritt nach unten vollziehen: Die Finanzmärkte gehen fest davon aus, dass sie den Einlagensatz um einen Viertel-Prozentpunkt - also 25 Basispunkte - auf 3,50 Prozent senken werden. Viele Börsenprofis erwarten, dass die abflauende Inflation den Weg für eine weitere geldpolitische Lockerung ebnet.

Sinkende Energiepreise haben die Inflationsrate in der Euro-Zone im August auf den niedrigsten Stand seit gut drei Jahren gedrückt. Waren und Dienstleistungen verteuerten sich nur noch um durchschnittlich 2,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Damit lag die Teuerungsrate nur noch knapp über dem Ziel der EZB von zwei Prozent.

Die EZB hatte mit Blick auf den nachlassenden Preisdruck bereits im Juni die Chance zu einer ersten Zinssenkung genutzt. Seither liegt der am Finanzmarkt richtungsweisende Einlagesatz bei 3,75 Prozent. Ihn erhalten Geldhäuser, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken.

Der Satz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte (im Fachjargon: Main Refinancing Operations) liegt derzeit noch bei 4,25 Prozent. Diesen früher als eigentlicher Leitzins bekannten Satz dürfte die EZB laut Commerzbank-Ökonom Marco Wagner am Donnerstag um 60 Basispunkte senken, um den Abstand der beiden Sätze zu verringern und dadurch die Volatilität am Geldmarkt gering zu halten. Davon gehen auch die von Reuters befragten Experten aus, die eine Senkung auf 3,65 Prozent erwarten.

«Nicht mit dem Autopiloten unterwegs»

«Ein Spagat dürfte die Kommunikation werden, weil einige Tauben im Rat wegen der Konjunkturrisiken wohl gerne eine weitere Zinssenkung unmittelbar im Oktober sähen, andere Ratsmitglieder aber lieber mit Bedacht vorgehen wollen», meint Commerzbank-Experte Wagner.

Mit Tauben sind Währungshüter gemeint, die eher eine lockere geldpolitische Linie bevorzugen, während Falken eine straffere präferieren. Die Commerzbank rechnet mit drei weiteren Zinssenkungen im Dezember, März und Juni. Laut Bundesbankchef Joachim Nagel ist die EZB allerdings «nicht mit dem Autopiloten unterwegs». Doch ist die grosse Welle bei der Teuerung seiner Meinung nach überstanden.

Laut DWS-Volkswirtin Ulrike Kastens dürften auch die turnusmässig am Donnerstag aktualisierten Projektionen der EZB-Volkswirte wesentlichen Argumente für einen weiteren Schritt nach unten auf dem Zinspfad liefern: Während die Prognosen zur Inflationsentwicklung ihrer Meinung nach nahezu unverändert bleiben dürften, treten nun die Konjunkturerwartungen stärker in den Vordergrund.

Die Schwäche der Binnennachfrage und eine fehlende Stimmungsverbesserung in der Industrie dürften demnach zu einer Abwärtsrevision der Projektion zum Bruttoinlandsprodukt führen: Im Juni hatten die Notenbank-Ökonomen für das laufende Jahr ein BIP-Wachstum in der Euro-Zone von 0,9 Prozent erwartet. Mit Blick auf die Inflation waren die EZB-Volkswirte für 2024 von einer Teuerungsrate von 2,5 Prozent ausgegangen.

«Der Rückgang der Gesamtinflation, der auch günstigeren Energiepreisen zu verdanken ist, sollte nicht den Blick für die Herausforderungen verstellen, die die Notenbanken noch zu bewältigen haben», warnt Michael Heise, Chefökonom von HQ Trust: Steigende Dienstleistungspreise, höhere Löhne und deutliche Preissteigerungen in der heimischen Produktion verlangten im Euroraum und in den USA Ausdauer und Beharrlichkeit in der Stabilitätspolitik.

In den Vereinigten Staaten wird für den 18. September mit der Zinswende gerechnet. Dort hält die Federal Reserve den geldpolitischen Schlüsselsatz derzeit noch in einer Spanne von 5,25 bis 5,50 Prozent. Auch wenn die Währungshüter auf beiden Seiten des Atlantiks die geldpolitischen Zügel schon bald lockern sollten, könnte ein Kursfeuerwerk an den Börsen und auch am Rentenmarkt ausbleiben, wo Anleihen und Teilschuldverschreibungen gehandelt werden: «Ein Schub für die Finanzmärkte dürfte mit den erwarteten Zinssenkungen nicht verbunden sein, die in den aktuellen Bewertungen von Aktien und Renten bereits berücksichtigt sind», erläutert Ökonom Heise.

(Reuters)