Die Europäische Zentralbank (EZB) bereitet die Finanzmärkte auf eine womöglich nahende erste Zinssenkung vor. Sollte die Zuversicht weiter gestärkt werden, dass die Inflation sich nachhaltig dem Notenbank-Ziel von zwei Prozent annähere, dann wäre eine Lockerung des restriktiven Kurses angemessen, erklärte die EZB am Donnerstag nach ihrer Zinssitzung in Frankfurt. Dabei kommt es laut EZB-Chefin Christine Lagarde auf die Beurteilung der Inflationsaussichten, der Dynamik der zugrundeliegenden Teuerung und die Schlagkraft der Geldpolitik an. «Wir werden nicht warten, bis alles zurückgeht auf zwei Prozent, um die Entscheidungen zu fällen, die notwendig sein werden.» Den Leitzins beliessen die Währungshüter am Donnerstag weiter bei 4,50 Prozent. Der am Finanzmarkt richtungsweisende Einlagensatz, den Geldhäuser erhalten, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken, blieb bei 4,00 Prozent.
Die EZB stehe in den Startlöchern, kommentierte Volkswirt Bastian Hepperle von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank die EZB-Beschlüsse. «Mit ihrem rhetorischen Schwenk heute öffnet sie die Tür für eine Zinssenkung, durch die sie im Juni gehen wird.» Mit der Konjunktur im Euroraum laufe es eher schlecht als recht und die Gesamtinflationsrate liege bereits relativ nahe am Zielwert der EZB. «Die EZB wird immer optimistischer, dass die Voraussetzungen für eine Lockerung der Geldpolitik gegeben sind», sagte der Europa-Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Mark Wall. «Eine Zinssenkung im Juni sollte niemanden überraschen.» Die Frage sei, ob die anhaltende Vorsicht der EZB hinsichtlich der Inflation dazu führe, dass aufeinanderfolgende Zinssenkungen im Juni und Juli weniger wahrscheinlich seien.
«Wir legen uns nicht im Voraus auf einen bestimmten Zinspfad fest», sagte Lagarde. Wie bisher will die EZB von Sitzung zu Sitzung entscheiden. Die Höhe und Dauer des Zinsniveaus will sie auch in Zukunft abhängig von der Datenlage festlegen. Im Juni werde die EZB eine Menge mehr Daten und Informationen bekommen, sagte sie. Dazu kämen neue Wirtschaftsprognosen der Notenbank-Volkswirte. Nur ein paar Ratsmitglieder seien der Ansicht gewesen, dass der Zeitpunkt für eine Lockerung schon jetzt gekommen sei.
EZB könnte Zinswende vor der Fed einleiten
Mit Blick auf die US-Notenbank Fed sagte Lagarde: «Ich werde nicht über die geldpolitische Haltung und die Entscheidungen einer anderen Zentralbank spekulieren.» Auf der anderen Seite des Atlantiks brummt die Wirtschaft, der Arbeitsmarkt zeigt sich robust und die Inflation ist anders als erhofft zuletzt sogar wieder gestiegen. Daher rechnen Börsianer inzwischen erst im September mit einer ersten Zinssenkung der US-Notenbank Fed.
Sollte die EZB auf ihrer nächsten Zinssitzung am 6. Juni die Zinsen erstmals wieder senken, würde sie daher sehr wahrscheinlich noch vor der Fed die Zinswende einleiten. Der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht die Notenbanken in einer schwierigen Lage. Zu frühe Zinssenkungen könnten ein Comeback der Inflation bewirken, zu langes Warten könnte die Wirtschaft abwürgen, erklärte der IWF am Freitag.
«Es wird erwartet, dass die Inflation in den kommenden Monaten um das derzeitige Niveau herum schwankt und dann im nächsten Jahr auf unser Zielniveau zurückgeht», sagte Lagarde. Die Konjunktur sei im ersten Quartal schwach geblieben. Doch Umfragen sprächen für eine schrittweise Erholung im Laufe des Jahres, wobei der Servicesektor vorangehen dürfte.
Zinsen seit September auf Rekordniveau
Die EZB hält inzwischen seit September 2023, als sie im Kampf gegen die Inflation zuletzt die Zinsen angehoben hatte, an den rekordhohen Schlüsselsätzen fest. Inzwischen ist die Inflation aber in der Euro-Zone im März auf 2,4 Prozent gefallen, nach 2,6 Prozent im Februar und 2,8 Prozent im Januar. Die Zwei-Prozent-Zielmarke der EZB rückt damit in greifbare Nähe. Die Zeiten der Hochinflation, die im Herbst 2022 zeitweise auf über zehn Prozent anstieg, sind längst vorbei. Zehn Zinsanhebungen der EZB zwischen Sommer 2022 und September 2023 zeigten Wirkung.
In den vergangenen Wochen hatte bereits eine Reihe von Währungshütern die Ansicht geäussert, die Zinssitzung im Juni könnte der geeignete Startpunkt für die Zinswende sein. In der jüngsten Zinsumfrage der Nachrichtenagentur Reuters waren Ende März mehr als 88 Prozent der befragten Volkswirte davon ausgegangen, dass die Euro-Notenbank im Juni erstmals wieder die Schlüsselsätze senken wird. Aktuell wird mit mindestens drei Zinssenkungen der Währungshüter in diesem Jahr gerechnet.
(Reuters)