Ökonomen gehen davon aus, dass die EZB am Donnerstag erstmals in ihrer Geschichte vor der Federal Reserve einen Zinssenkungszyklus einleitet, da die Inflation diesseits des Atlantiks schneller nachlässt als in den USA. Vermögensverwalter und Marktstrategen sehen angesichts dessen bei der Rekordrally des Stoxx Europe 600 Index Luft nach oben, obgleich der Zeitpunkt der Fed-Zinssenkungen ungewiss bleibt. „

"Alles in allem ist es eine ziemlich gute Kombination für Aktien", sagt Lilia Peytavin von Goldman Sachs in Paris. „Entscheidend ist am Donnerstag der neue Wachstums- und Inflationsausblick der EZB. Wir gehen davon aus, dass sich das Wachstum in der Eurozone in den kommenden Quartalen erholen wird."

Dies dürfte sich positiv auf zyklische Werte auswirken, so die Portfoliostrategin. Seit den 1980er Jahren sind die europäischen Börsen im Monat nach einer Fed-Zinssenkung um 2 Prozent vorangekommen, wie Goldman Sachs anmerkt. Ihre Performance war damit etwa doppelt so stark wie in einem Durchschnittsmonat. Auf Zwölf-Monats-Sicht sei mit einer viel stärkeren Rally zu rechnen, wenn die Zinssenkungen von einer robusten Wirtschaft begleitet werden, so die Bank.

Seit Jahresbeginn ist das Kursniveau bereits um 8 Prozent gestiegen, sodass ein Teil des Optimismus bereits eingepreist ist. Die Eurozone hat die Rezession hinter sich gelassen. Die vier wichtigsten Volkswirtschaften wuchsen zuletzt immerhin schneller als erwartet. Indessen haben die Händler nun mindestens zwei Zinssenkungen der EZB im Jahr 2024 vollständig eingepreist.

Das schränke zwar die Chancen auf einen "grossen Sprung" ein, wenn die Zentralbank am Donnerstag die Zinsen senkt, sagte Luca Paolini von Pictet Asset Management. Irrelevant werde der Schritt jedoch nicht sein, so der Stratege. "Vielleicht ist er schon eingepreist, aber es gibt eine psychologische Wirkung, die nicht außer Acht gelassen werden kann, wenn man bedenkt, dass sich die Fundamentaldaten langsam in die richtige Richtung bewegen."

Die Strategen der Citigroup halten es für möglich, dass sich die Leitzinsen letztlich bei rund 2 Prozent einpendeln werden. Das könnte den Anlegern helfen, sich für Europa zu entscheiden, schrieb Strategin Beata Manthey. Sie verweist darauf, dass sich Zykliker aus der Region in der Zeit vor der globalen Finanzkrise in der Tendenz stärker entwickelt hätten als in den USA.

Vor allem für hoch verschuldete Sektoren wie die Immobilienwirtschaft ist mit Aufwind zu rechnen. Hohe Kreditkosten und Refinanzierungssorgen belasten die Immobilienbewertungen und haben den Bereich in diesem Jahr zu einem der grössten Börsennachzügler in Europa gemacht. Auch die Automobilhersteller dürften profitieren, da niedrigere Zinsen die Autofinanzierung erschwinglicher machen.

Bei Banken indessen hält JPMorgan Chase die Phase der überdurchschnittlichen Ertragsentwicklung für bedroht. Seit Jahresbeginn hat der Sektor im Stoxx 600 die besten Performance gezeigt. Oddo-Stratege Thomas Zlowodzki sieht die Kombination aus der ersten EZB-Zinssenkung, nachlassender politischer Unsicherheit nach den Wahlen zum Europäischen Parlament an diesem Wochenende und einer Erholung des Wirtschaftswachstums als Grund für Börsenoptimismus. "Wenn alle diese Faktoren zusammentreffen, könnte Mitte Juni der richtige Zeitpunkt für eine Übergewichtung Europas sein", so Zlowodzki.

(Bloomberg)