Die Erwartungen einer starken Zinserhöhung der Europäischen Notenbank (EZB) wurden in den letzten Monaten gedämpft. Die Wirtschaftsdaten, das enttäuschende Wachstum im ersten Quartal und die strengeren Kreditbedingungen ermöglichten es der europäischen Notenbank, von einer Erhöhung um 50 Basispunkte abzusehen und heute auf eine Erhöhung um 25 Basispunkte herunterzuschalten. 

Damit ist die EZB in die Endphase ihres derzeitigen Straffungszyklus eingetreten, hält die ING Bank in einer Stellungnahme fest. "Das heisst nicht, dass der Inflationskampf vorbei ist." Viel Grund zum Feiern gibt es an der Inflationsfront nicht, und die Notenbank bleibe im Straffungsmodus.

Die EZB hält in der Stellungnahme zum Zinsentscheid fest, dass die Inflation für "zu lange zu hoch" sei. Deshalb halte sie an der datenbasierten Analyse weiter fest.Ferner hat die EZB bekräftigt, dass sie auch in Zukunft weiter an der Zinsschraube drehen werde, damit die Geldpolitik genügend restriktiv bleibt. Das Inflationsziel von 2 Prozent wird beibehalten. Zudem gab die Notenbank bekannt, ab Juli die Gelder der auslaufenden Wertpapiere des allgemeinen Kaufprogramms APP nicht mehr in den Kauf von neuen Anleihen zu stecken. 

Frederik Ducrozet, Head of Macroeconomic Research, und Nadia Gharbi, Senior Economist bei Pictet Wealth Management, strichen in einem Preview die Wichtigkeit der heutigen Kredit- und Inflationsdaten hervor. Diese müssten belegen, dass sich der straffere geldpolitische Kurs der EZB auf die Realwirtschaft überträgt und die Risiken für die Inflationsaussichten verringert. Entsprechend hat nun die EZB gehandelt. 

Entscheidend für den heutigen Entscheid ist gemäss den Pictet-Strategen, dass eine Mehrheit der EZB-Räte zu einer pragmatischeren Haltung übergegangen ist und darauf bestanden hat, von hier aus vorsichtiger vorzugehen, da die Leitzinsen bereits restriktiver geworden sind und die verzögerte Wirkung einer geldpolitischen Straffung noch abzuwarten ist.

Deshalb ist der Schritt um 25 Basispunkte für den Moment wohl der richtige Entscheid. Dieser hatte sich in den letzten Wochen unter anderem auch daran abgezeichnet, dass immer mehr EZB-Mitglieder darauf hingewiesen haben, dass ein gemächlicheres Tempo angebracht sei. 

Ökonomen sagten in ersten Reaktionen gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters:

Ulrich Kater, Chefvolkswirt Dekabank:

"Wie die amerikanische Notenbank nähert sich auch die EZB dem Ende der Zinstreppe. Im Euroraum gibt es noch einen oder zwei weitere Schritte, dann ist erstmal Pause. Ob dies nur ein vorübergehender Absatz ist, von dem aus es mit den Zinsen weiter nach oben geht, wird sich erst gegen Jahresende zeigen. Dann ist es besser einschätzbar, ob das Zinsmedikament gegen die hohe Inflation anschlägt."

Jörg Krämer, Chefvolkswirt Commerzbank:

"Auch nach sieben Zinserhöhungen in Folge liegt noch ein gutes Stück Arbeit vor der EZB. Die Inflation neigt nämlich dazu, sich auf hohen Niveaus festzusetzen. Diese selbst stabilisierende Tendenz der Inflation zu überwinden, erfordert ein entschiedenes Gegensteuern. Ein EZB-Einlagensatz von jetzt 3,25 Prozent reicht sicherlich nicht aus. Die EZB muss mehr als einmal nachlegen, um die Inflation dauerhaft zurück auf zwei Prozent zu bringen."

In einer ersten Reaktion gab der Euro zum Schweizer Franken auf 0,9789 nach und notiert leicht tiefer gegenüber heute morgen. Die aktuellen Zinssätze für September zeigen immer noch einen Zinspeak von etwa 3,75 Prozent an. Gegenüber gestern ist der Satz allerdings von 3,74 auf 3,65  Prozentpunkte gefallen. Das deutet darauf hin, dass der Markt jetzt eher dazu tendiert, nur noch eine weitere Zinserhöhung und nicht zwei weitere Zinserhöhungen einzupreisen. Das dürfte auch die unmittelbaren Euro-Verkäufe am Devisenmarkt nach dem Zinsentscheid ausgelöst haben. 

Thomas Daniel Marti
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