Für ausländische Beobachter sei wichtig zu wissen, "dass diese Proteste nicht aus dem Nichts kommen", sagte die Programmleiterin Politik und Gesellschaft des China-Thinktanks Merics am Dienstag in einem Interview der Nachrichtenagentur Reuters.

Chinas Bevölkerung habe in der Corona-Pandemie ein schwieriges Jahr hinter sich, mit Lockdowns wie in Shanghai. Oft seien sogar 40 bis 50 Millionen Menschen durch die Null-Covid-Strategie von sehr einschneidenden Beschränkungen im Alltag betroffen gewesen. Dies habe die Lebensqualität sehr stark eingeschränkt und kleinen Geschäften sowie der Landwirtschaft enorme Probleme bereitet.

Drinhausen sieht die nun sichtbar gewordenen Proteste in mehreren chinesischen Städten deshalb eher als die Spitze des Eisbergs von Spannungen, die sich etwa im Internet trotz der harten Zensur bereits abgezeichnet hätten.

«Zeigt, wie gross die Not der Menschen ist»

Es habe dann sehr unterschiedliche lokale Auslöser für die Demonstrationen gegeben, in einigen habe es anschliessend auch direkte Kritik an der kommunistischen Führung gegeben. Dass es trotz der Zensur in verschiedenen Landesteilen überhaupt Proteste geben konnte, "zeigt, wie gross die Not der Menschen ist".

Die chinesische Führung sei sich dabei seit längerem bewusst gewesen, dass sie Auswege aus der durch die zentral angeordnete Zero-Covid-Strategie geschaffene Situation finden müsse. So habe es Anpassungen gegeben, um etwa lokale Willkür und eine übermässige Einschränkung von Kontakten einzudämmen.

Am Dienstag sei zudem ein neuer Impfplan erlassen worden, um die niedrige Impfquote zu erhöhen - eine Voraussetzung für Öffnungen, weil sonst eine grosse Infektions- und Krankheitswelle droht. Am besten wäre wohl eine Mischung von Impfstoffen, um den geringeren Wirkungsgrad als bei westlichen Corona-Impfstoffen auszugleichen, meint Drinhausen. Gerade bei der älteren Bevölkerung gebe es aber eine Impfzurückhaltung wegen zahlreicher Arzneimittelskandale in China mit heimischen Produkten.

"Die Regierung hat eine schwierige Gradwanderung vor sich, wobei noch nicht klar ist, ob sie sie gut meistern wird", meint die China-Expertin. Peking habe vor Monaten die Chance verpasst, die nötigen Reformen in der Corona-Politik einzuleiten.

Nun sei klar, dass es einen grossen Schwenk von der Logistik und den Ressourcen für Lockdowns und Kontrolle hin zu einer koodinierten Impfkampagne geben müsste. "Für die nächsten drei bis sechs Monaten wird es auf jeden Fall ein schmaler Grad werden, den die Regierung da gehen muss." Denn die kommunistische Führung müsse den Kurs leicht lockern, um die schlimmsten Härten für die Menschen und den Druck zu nehmen - gleichzeitig aber ohne den verbreiteten Impfschutz sicherstellen, dass sich das Virus nicht ungehindert ausbreitet.

Differenzierter Blick

Westlichen Regierungen rät Drinhausen zu einem differenzierten Blick auf die Ereignisse. Zum einen könne man aufgrund der eigenen Corona-Erfahrungen sicher vermitteln, dass man die Probleme teilweise verstehe. Zum anderen solle man mit Hinweis auf Menschenrechtsstandards darauf hinweisen, dass Menschen ihre Sorgen äussern können sollten, ohne sofort unterdrückt zu werden. "Die letzten Jahren haben sehr gut gezeigt, dass ein Triumph im Systemvergleich zu einfach und vorschnell ist", warnte Drinhausen zugleich aber.

Zu verschiedenen Zeiten der Pandemie hätten verschiedene Staaten unterschiedlich gut und schlecht ausgesehen. Man solle sich nicht China zum Vorbild nehmen, dass sich selbst ein Jahr nach Pandemieausbruch gepriesen hatte, mit seiner strengen Zero-Covid-Strategie den besseren Weg als die westlichen Demokratien gegangen zu sein. "Jetzt steht China an einem schwierigen Kipppunkt", sagte die Forscherin. Alle sollten sich lieber auf die positiven Entscheidungen konzentrieren, die wirklich Fortschritte bei der Covid-Bekämpfung gebrächt hätten - und "sehr demütig" sein. 

(Reuters)