Das mag nach der grossen Rallye an der Wall Street vom Mittwochabend überraschend klingen: Aber die europäischen Aktien erleben ein Comeback und schliessen die Lücke zu den US-Aktien, nachdem das Jahr 2022 für die Anlege auf dem alten Kontinent durch den Krieg in der Ukraine, eine Energiekrise und eine fallende Währung geprägt war.

Nachdem der Stoxx 600 die meiste Zeit des Jahres hinter dem S&P 500 zurückgeblieben war, hat er in den letzten zwei Monaten zu seinem US-Pendant aufgeschlossen. Die Erholung spiegelt zum Teil die neu entdeckte Stärke der zyklischen Aktien wider, die in Europa in Hülle und Fülle vorhanden sind. Unternehmen aus der Technologiebranche, dem Einzelhandel, der Reisebranche und der Industrie profitieren von der nachlassenden chinesischen Rhetorik in Bezug auf Covid und den zaghaften Schritten zur Wiedereröffnung.

Europäische Aktien mit Bewertungsabschlag

Ein weiterer Faktor sind die niedrigen Bewertungen in der Region. Selbst nach der jüngsten Rallye werden europäische Aktien mit einem Abschlag von 30 Prozent gegenüber US-Papieren gehandelt. Dies könnte in Zukunft ein grosser Vorteil sein, da die Zinsen weiter steigen und die hohen Bewertungen möglicherweise noch stärker unter Druck geraten.

"Wir vermuten, dass die Anleger europäische Aktien im Vergleich zu ihren US-Konkurrenten mit einem zu grossen Abschlag versehen", sagt Beata Manthey, Teil des Strategen-Teams der US-Grossbank Citi.

Während die allgemeine Underperformance der Region im bisherigen Jahresverlauf aufgeholt wurde, liegen Sektoren wie Investitionsgüter, Versicherungen, Energie sowie Nahrungsmittel und Getränke um 18 bis 40 Prozent hinter ihren US-Pendants zurück. Diese werden daher nach Ansicht der Strategen noch aufholen.

Geringere Abwärtsrisiken als bei US-Aktien

Nestlé, Swiss Re, Siemens, BP, Shell und Heineken hätten laut Citi-Strategen das Potenzial zu einer überdurchschnittlichen Wertentwicklung, da sie über ein hohes internationales Ertragsprofil verfügen. Gerade dieses sei angesichts der schwierigen makroökonomischen Aussichten in Europa "wünschenswert".

Auch die Gewinndynamik spricht für Europa: Die Unternehmen der Region haben in diesem Jahr einen viel stärkeren Aufschwung erlebt als die US-Unternehmen. Dies muss sich noch vollständig in den Aktienkursen widerspiegeln, so dass noch Spielraum für weitere Aufholjagden besteht.

Laut Christian Stocker, Stratege bei Unicredit, macht der Bewertungsabschlag Europas die Aktien der Region weniger anfällig für mögliche Gewinnenttäuschungen oder Abwärtskorrekturen in den kommenden Monaten. Er empfiehlt, den Stoxx 600 gegenüber dem S&P 500 zu bevorzugen. Er weist gleichzeitig darauf hin, dass ein Szenario höherer Leitzinsen Value-Aktien wie Finanzwerte, die in Europa stark gewichtet sind, unterstützen dürfte.

Bei der britischen Grossbank Barclays stellt Stratege Emmanuel Cau fest, dass US-Aktien nach "übertriebenen" Abflüssen aus europäischen Aktien anfälliger für das Kapitulationsrisiko sind. Eine sehr vorsichtige Positionierung des Marktes, eine mögliche Wiedereröffnung in China, ein stärkerer Euro und ein mögliches Nachlassen der Feindseligkeiten in der Ukraine sorgen für positives Risikoprofil für europäische Aktien, heisst es.

(Bloomberg/cash)