cash.ch: Dank den Zinserhöhungen der letzten zwei Jahre ist die Teuerung zurückgekommen. Ein wesentlicher Grund schreibt der Internationale Währungsfonds der Unabhängigkeit der Zentralbanken zu. Sind die Zentralbanken wirklich unabhängig?
Jan Viebig: Zentralbanken sind nie völlig unabhängig. Die amerikanische Fed zum Beispiel ist nur eine unabhängige Organisation. Und momentan erhöht sich der Druck, gerade Donald Trump möchte mehr Einfluss auf die Geldpolitik nehmen. Und wenn der politische Druck zunimmt, dann leidet die Unabhängigkeit. In den USA wäre es relativ leicht, das Zentralbankgesetz zu ändern. Das ist das eine. Und zweitens gibt es in der Geschichte viele Beispiele, die darauf hindeuten, dass US-Präsidenten immer wieder Einfluss auf die Geldpolitik genommen haben. Zum Beispiel unter Arthur Burns in den 70er Jahren, als der damalige US-Präsident Richard Nixon einen enormen Einfluss auf die Geldpolitik genommen hat.
Macht der jetzige Fed-Präsident Jerome Powell seine Sache richtig?
Der jetzige Präsident Powell hat einen relativ guten Job gemacht, weil er die Zinsen bis auf das Zielband von 5,25 bis 5,50 Prozent stark angehoben hat. Vielleicht ist er ein bisschen verspätet herangegangen. Aber Powell hat die Zinsen relativ lange oben gelassen, viel länger, als die meisten es erwartet hatten. Das hat dazu geführt, dass die Inflation von 9,6 Prozent auf ungefähr 3 Prozent zurückging.
Es war also kein politischer Entscheid im letzten November, drei Zinssenkungen für 2024 in Aussicht zu stellen?
Gerade die US-Notenbank ist nicht völlig unabhängig, da die Fed ein duales Mandat hat. Sie ist nicht wie die Schweizerische Nationalbank (SNB) oder die Europäische Zentralbank (EZB) ausschliesslich oder vornehmlich auf das Ziel der Preisstabilität verpflichtet, sondern soll einerseits die Preisstabilität wahren und andererseits dafür sorgen, dass die Beschäftigung in den USA hoch bleibt. Vor einigen Monaten bestand die berechtigte Sorge, die US-Wirtschaft könnte in eine Rezession abdriften.
Das ist aber nicht eingetreten.
Das war damals eine ernsthafte Sorge, und insbesondere die Finanzmarktteilnehmer haben erwartet, dass wir sehr schnell Zinssenkungen bekommen. Da hat jeder fünf Zinssenkungen erwartet. Wir haben damals gesagt, das wird nicht passieren, weil die Kerninflationsrate viel zu hoch ist. Aber das hat sich nicht bestätigt.
Jetzt sind acht Zinssenkungen in den nächsten zwölf Monaten eingepreist. Ist das realistisch?
Das ist ebenso unrealistisch, und zwar deutlich. Der Markt erwartet 100 Basispunkte bis Ende Jahr. Das würde bedeuten, dass wir 50 Basispunkte am 18. September sehen werden und zwei weitere Zinssenkungen. Die Erwartungen am Markt sind völlig übertrieben und deswegen ist das Enttäuschungspotenzial gross.
Es droht also keine Rezession in Übersee?
Ökonomen sind schrecklich schlecht, Rezessionen vorherzusagen. Es gibt aber drei wichtige Indikatoren. Der erste Indikator ist die Zinsstrukturkurve. Derzeit ist die Zinsstrukturkurve invers. Das deutet zumindest darauf hin, dass die Rezessionswahrscheinlichkeit deutlich höher ist als in normalen Perioden. In normalen Perioden liegt die durchschnittliche Rezessionswahrscheinlichkeit bei 16 Prozent. Die zweite Regel, die relativ gut ist, wird Sahm-Regel genannt. Da guckt man sich an, wo die durchschnittliche Arbeitslosenquote im Vergleich zum Tiefpunkt steht. Und da hat man halt jetzt eine ansteigende Arbeitslosenquote.
Die Ökonomin Claudia Sahm meint, ihr Indikator sei im Moment nicht geeignet.
Ich glaube auch, das ist derzeit kein verlässlicher Indikator. Einfach, weil man momentan in den USA keine grosse Entlassungswelle hat.
Was ist der dritte Indikator?
Das sind die sogenannten vorlaufenden Indikatoren, zum Beispiel die ISM-Indizes, welche Auskunft über die Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft geben. Diese Indizes deuten derzeit auf eine Abschwächung der volkswirtschaftlichen Aktivität hin. Deswegen würde ich momentan eine Rezessionswahrscheinlichkeit von 30 Prozent als relativ realistisch betrachten. Das heisst aber gleichzeitig, dass wir zu 70 Prozent keine Rezession erwarten. Im zweiten Quartal hatten wir ein US-Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozent, im ersten Quartal eines von 1,4 Prozent. Wenn wir dieses Jahr so um die zwei Prozent rauskämen, dann wäre das gut. Das heisst, abschwächendes Wachstum ja, Rezession eher unwahrscheinlich.
Die Schweizer Wirtschaft wächst im Vergleich zu den USA in bescheidenem Mass. Wie beurteilen Sie die Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank?
Die SNB hat schon relativ viel getan und hat die Zinsen zwei Mal in diesem Jahr gesenkt. Das war die richtige Entscheidung. Der Schweiz geht es relativ gut und wir erwarten ungefähr ein Wachstum von einem Prozent, vielleicht 1,3 Prozent in diesem Jahr - also viel höher als in Deutschland. Ferner ging die Inflation in der Schweiz noch stärker zurück als in der Eurozone. Die Schweizerische Nationalbank ist funktionell unabhängig und vor allem weisungsunabhängig. Letzteres erkennt man an der Berufung des neuen SNB-Präsidenten Martin Schlegel. Er ist bereits seit 2003 bei der Nationalbank. Das ist eine sehr lange Zeit, und die Wahl durch den Bankrat zeigt die grosse Unabhängigkeit von der Politik.
Die SNB scheint vielmehr abhängig vom starken Franken zu sein und somit doch nicht ganz unabhängig?
Klar, auch die Schweizer Zentralbank ist nicht wirklich unabhängig. Die Schweiz ist ein sehr produktives Land. Das ist eine extrem offene Volkswirtschaft, welche im letzten Jahr Waren für 377 Milliarden Franken exportierte bei einem Bruttoinlandprodukt von 814 Milliarden Franken. Die SNB muss deshalb immer aufpassen, dass der Schweizer Franken sich nicht zu stark aufwertet. Man erwartet jetzt aber nicht, dass die Franken-Zinsen wieder auf Null gehen. Und auf der anderen Seite haben sie die EZB und die Fed, welche die Zinsen viel stärker senken werden. Dadurch werden die Zinsdifferenzen kleiner und das führt natürlich dazu, dass sich der Schweizer Franken eher aufwerten sollte.
Die Gefahr einer weiteren Frankenaufwertung besteht also weiterhin?
Ja, und deswegen ist es klug von der SNB, immer wieder zu sagen, wir können intervenieren, um diesem enormen Aufwertungsdruck entgegenzusteuern. Mit einer niedrigen Verschuldung steht die Schweiz viel besser da als zum Beispiel die USA oder viele Länder der Eurozone. In den USA haben wir eine Verschuldung von 35 Billionen Dollar, während das Bruttoinlandprodukt nur 28 Billionen Dollar beträgt. Bei der Gesamtverschuldungsrate sind wir da bei 123 Prozent momentan. Auch das spricht dafür, dass der Dollar sich eher abwerten sollte im Vergleich zu einer viel stabileren Volkswirtschaft wie der Schweiz. Es ist ja ein Naturgesetz, dass der Schweizer Franken eine Tendenz zur Aufwertung hat.
Vor welchen Herausforderungen steht die EZB?
Die Herausforderung der EZB besteht darin, eine Geldpolitik für 20 unterschiedliche Volkswirtschaften zu finden. Die Europäische Währungsunion wurde primär aus politischen Gründen geschaffen. Die 20 Mitgliedstaaten, die an der Europäischen Währungsunion teilnehmen, sind sehr heterogen. Es ist schwierig, eine gute Geldpolitik zu schaffen, die für jedes Land passt..
Man wird den Eindruck nicht los, dass der einzige gemeinsame Nenner für die Eurozone ein schwacher Euro ist. Stimmt das?
Ich würde widersprechen. Klar hat sich der Euro zwischenzeitlich stark abgewertet und er ist unter die Parität zum Dollar gefallen. Das liegt daran, dass der Euro eigentlich nicht mehr als Starkwährung angesehen wird. Der Dollar und der Franken werten sich dagegen in Krisenzeiten immer auf. Wenn man jetzt davon ausgeht, dass sich diese ganzen Krisen irgendwann wieder abwickeln oder zumindest nicht schlimmer werden, dann würde das dazu führen, dass der Euro irgendwann zur Kaufkraftparität zurückkehren würde. Diese liegt beim Dollar zum Euro momentan ungefähr bei 1,41 gegenüber dem aktuellen Kurs von 1,11. Das heisst, der Euro ist extrem unterbewertet und er sollte sich entsprechend zum Dollar aufwerten.
Wo steht die Kaufkraftparität des Euro zum Franken? Ist da die Differenz wie beim Euro-Dollar-Paar auch so gross?
Kaufkraftparität liegt vor, wenn Sie bei gegebenen Wechselkursen den gleichen Warenkorb für einen bestimmten Geldbetrag kaufen können. Ein schönes Beispiel, die Kaufkraftparität verständlich darzustellen, ist der 'Big Mac Index'. In der Schweiz zahlen Sie momentan 8,07 Dollar für einen Big Mac, in der Eurozone aber nur 6,06 Dollar. Die Schweizer müssen sich angesichts der hohen Preise aber nicht grämen, da sie ja weitaus höhere Löhne beziehen und über ein höheres Pro-Kopf-Einkommen verfügen. Als Schweizer können Sie sich sogar freuen, da Sie sich für ihre starke Währung viel mehr Güter und Dienstleistungen in der Eurozone kaufen können als daheim. Wir freuen uns auf Ihren Shopping-Besuch.
Professor Jan Viebig ist Chief Investment Officer (CIO) von ODDO BHF, einem deutsch-französischen Vermögensverwalter mit Kundenvermögen von rund 140 Milliarden Euro. Davor war der Wirtschaftswissenschaftler in leitenden Positionen unter anderem bei Vontobel Asset Management, bei der Credit Suisse und der DWS Investment tätig. Neben seinen Aktivitäten in der Finanzwelt lehrt Viebig an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
4 Kommentare
Die Äusserungen sowie das Beispiel (BIG MAC) von Prof. Jan Viebig bestätigen auf eindrückliche Weise, dass der CHF sowohl gegenüber der Währung Euro, insbesondere aber gegenüber dem US-Dollar, viel zu stark ist. Für Schweizer lohnt es sich den Einkauf an den grenzüberschreitenden Einkaufszentren zu machen. Für die Ausländer, insbesondere US-Unternehmen und Touristen, lohnt es sich nicht mehr in der Schweiz Aufträge zu erteilen bzw. Einzukaufen bzw. Ferien zu machen. Der Schweizer Franken ist gegenüber dem EURO und dem US-Dollar zu stark.
Fiat Währung gegen Fiat Währung messen ist ja fast wie mit einem Gummiband ein anderes Gummiband messen. Ansatzweise kann man Fiatwährungen gegen die wirklich existierende Goldmenge messen. Nur wie soll das gehen?
Dazu eigent sich Bitcoin als feste Messeinheit. btw: BTC | Bigmac Index ist interessant!
Die Aussage zum Dollar ist falsch. Die Kaufkraftparität des USD zum CHF lag Anfang August bei rund 0.80, der Wechselkurs bei 0.87. Ich hätte also 87 Rappen aufwenden müssen, um einen Dollar zu kaufen, für den ich Waren im Wert von 80 Rappen bekommen hätte. Mit anderen Worten, der CHF ist gegenüber dem USD zu schwach.
Die Kaufkraftparität des EUR zum CHF lag Anfang August bei rund 1.00, 1 Euro kostete 0.9570 Franken. Hier stimmt es, dass der CHF gegenüber dem Euro überbewertet ist.
@housi Nationale Währungen stehen für die volkswirtschaftliche Leistungen ihre Nation, sind also unterlegt, während Kryptowährungen ihren "Wert" komplett aus den Fantasien im Teletubbies-Land beziehen.