In den letzten beiden Maiwochen gerieten die Märkte erneut ins Wanken, wenn auch deutlich weniger stark als im April. Der Stoxx 600 prallte von seinem gleitenden 50-Tage-Durchschnitt ab, wie auch der S&P 500, und ermöglichten damit gegen Ende Mai Investoren eine kräftige «Buy-the-Dip»-Möglichkeit.

Wie es bei Verfallsterminen am Ende des Monats üblich ist, stieg das Volumen markant an. Nur war der letzte Handelstag im Mai kein Verfallstag. Es ist zwar keine Seltenheit, dass das Volumen Ende Mai aufgrund von Neugewichtungen der Indizes in die Höhe schnellte. Doch vergangenen Freitag war es der höchste Wert (ausserhalb von Verfallsterminen) des Stoxx 600 in mehr als vier Jahren.

«Die Märkte bewegen sich vom einen Extrem zum anderen, aber die Schwäche der Risikoanlagen ist weitgehend eingedämmt», so die Strategen der britischen Bank HSBC. Das derzeitige Umfeld sollte gemäss den HSBC-Analysten noch eine ganze Weile anhalten. Die weltweite Inflation ist nicht mehr auf angebotsseitige Probleme zurückzuführen, welche die Unternehmensgewinne, -erträge und -wachstum bedrohen könnten, sondern ein Ausdruck des starken Wirtschaftswachstums. 

«Wir sehen jeden Rückschlag bei Risikoanlagen - selbst einen so geringen wie vergangene Woche - als Gelegenheit, das Engagement weiter auszubauen.» Denn die Wirtschaftsstimmung hat sich in Europa in diesem Jahr stetig verbessert. Die europäischen Aktienkurse sind dieser Entwicklung zwar vorausgeeilt und so ist eine beträchtliche Lücke zwischen Stimmungsindikatoren und Aktienkursen entstanden. Doch dies könnte die gemischten Gefühle der Anleger widerspiegeln, die zwischen einer insgesamt vorsichtigen Haltung und der Angst, die Kursavancen zu verpassen, hin- und hergerissen sind.  

An Risiken mangelt es nicht

Die Risiken in den nächsten zwei Wochen sind vielfältig. Dazu gehören der Zinsentscheid der Europäischen Zentralbank in dieser Woche, die Sitzung der Federal Reserve, die Publikation der US-Verbraucherpreisindex- und Arbeitsmarktdaten in der nächsten Woche. Zudem finden vom 6. bis 9. Juni die Europäischen Parlamentswahlen statt. Gleichzeitig toben die Kriege in der Ukraine und in Palästina im Hintergrund weiter.

«Unserer Meinung nach gibt es zahlreiche Faktoren, die einen Ausverkauf auslösen könnten, und genau das ist das Problem», sagen die Strategen von Kepler Cheuvreux. Sie fügen hinzu, dass die Anleger für das Risiko, das sie mit dem Kauf von Aktien eingehen, zur Zeit nicht ausreichend entschädigt werden.

Die Strategen meinen, dass die kurzfristigen Aussichten für die Zinssätze, das Wirtschaftswachstum und die Inflation unsicher sind. Die letzten zwei Jahre haben bewiesen, dass nur wenige sie präzise schätzen können. Kepler Cheuvreux bleibt deshalb vorsichtig und empfiehlt defensive Werte vor zyklischen Titeln - letztere scheinen einen Grossteil der erwarteten Erholung im verarbeitenden Gewerbe in den USA bereits einzupreisen. Dies, obwohl die jüngsten Daten aus den USA in die Gegenrichtung deuten - die Produktionstätigkeit hat sich im Mai erneut verschlechtert.

Die Gesamtwirtschaft bleibt treibende Kraft

Die Anleger müssen die Inflationserwartungen und deren Auswirkungen auf die Geldpolitik der Zentralbanken abwägen, während das Wachstum erste Anzeichen von Schwäche zeigt. Für die Strategen von der Bank of America, die bis zum Jahresende mit einer starken Abwärtsbewegung rechnen, gibt es nur ein Aufwärtsszenario: «Der Inflationsdruck lässt nach, bevor das Wachstum weiter sinkt. Der Marktkonsens schwankt zwischen Goldilocks und Higher-for-longer (H4L) hin und her.» 

Das Goldlocks-Seznario besteht aus einem idealen Zustand der Wirtschaft mit starkem Wachstum und nachlassender Inflation. Das H4L-Szenario charakterisiert sich durch ein starkes Wachstum bei anhaltend hoher Inflation. 

Die Daten deuten jedoch zunehmend auf eine dritte Variante hin, ergänzen die Analysten der Bank of America: Einem Wettlauf zwischen einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums der USA (negativ für Aktien) und einer nachlassenden Inflation (positiv für Aktien).

(cash/Bloomberg)