cash.ch: Herr Stucki, es scheint genau das einzutreten, wovor alle inständig gewarnt hatten: Der US-Wahlausgang ist knapp und Trump kündigt eine Klagewelle an. Trotzdem schossen die Börsen am Tag nach der Wahl regelrecht nach oben. Was ist da passiert?

Thomas Stucki: Zwei Faktoren haben den Markt getrieben: Einerseits geht es trotz der ganzen Aufregung einigermassen gesittet zu. Zwar gibt es Streit, doch der grosse Knall blieb bisher aus. Wir sehen etwa keine grösseren gewaltbereiten Demonstrationsgruppen, die auf die Strassen gehen, wie teilweise befürchtet. Andererseits registrierte der Markt mit Erleichterung, dass die reine Pro-Biden-Wette nicht aufgegangen ist.

Was meinen Sie damit?

Der Markt ist im Vorfeld davon ausgegangen, dass Joe Biden und die Demokraten sowohl die Präsidentschaft als auch die Mehrheit im Senat gewinnen würden. Das wird, wie es derzeit aussieht, wohl nicht passieren. Ein Präsident Biden wird also nicht durchregieren können. Damit ist etwa die von vielen gefürchtete Unternehmenssteuerreform, die Firmen stärker belastet hätte, jetzt erstmal vom Tisch. Der Markt hatte sich im Vorfeld der Wahl aber grösstenteils auf dieses Szenario einer 'Blauen Welle' der Demokraten positioniert – und muss nun seine Position wiederum zurückdrehen.

Welche Positionen genau?

Wir haben es ja gesehen am Wahltag: Pharma und Technologie waren extrem gesucht. Banken und zyklische Titel hatten hingegen Mühe. Allgemein scheint der Markt recht zuversichtlich zu sein. Das dürfte aber nur so bleiben, wenn sich die US-Wahl relativ bald definitiv entscheiden wird. 

Stellen Sie sich auf eine längere juristische Auseinandersetzung ein?

Ich gehe nicht davon aus, dass die Wahl in den nächsten Tagen definitiv entschieden ist. Trotzdem wird man es auch nicht auf Spitze treiben. Irgendwann werden auch die Republikaner einsehen, dass es schlicht keine juristische Handhabe für Klagen gibt. Ich gehe nicht davon aus, dass das Prozedere noch Wochen dauern wird.

Wie passen die plötzlich stark sinkenden Renditen auf US-Staatsanleihen, die ja an sich ein Bedürfnis nach Sicherheit am Markt ausdrücken, eigentlich mit dem jetzt steigenden Risikoappetit an den Börsen zusammen?

Nun, die Renditen auf Anleihen waren ja im Vorfeld der Wahl relativ stark gestiegen. Jetzt ist das gleiche wie am Aktienmarkt passiert. Man hatte auf riesige Aufbauprogramme von Biden spekuliert. Die Staatsschulden wären stark gestiegen, die Wirtschaft wäre gut gelaufen, was den Inflationsdruck erhöht hätte. Man hat sich also für ein Szenario positioniert, in dem die Zinskurve steiler wird – auch das wurde gestern gedreht.

Was sind in den nächsten fünf Jahren die grössten Treiber an den Aktienmärkten?

Die wirtschaftliche Erholung nach Corona wird in den nächsten Jahren der Hauptreiber am Aktienmarkt sein. Wenn eine so starke Rezession wie jetzt während der Corona-Krise stattfindet, hat dies auch starke strukturelle Änderungen zur Folge. Die wirtschaftliche Erholung wird – mit Ausnahme des ersten Rebounds – zwar nicht sehr stark sein, dafür aber langfristig, ähnlich wie nach der Finanzkrise 2008. Die Wirtschaft wird sich langsam an die neue Situation anpassen. Das ist grundsätzlich gut für die Aktienmärkte.

Was spricht noch für Aktien in den nächsten Jahren?

Das Tiefzinsumfeld wird noch lange andauern. Ich mag das vielzitierte Wort 'Anlagenotstand' eigentlich nicht. Aber ja, der Druck in Richtung Sachwerte wie Aktien und Immobilien wird anhalten, weil die Leute bei festverzinslichen Anlagen nichts verdienen. Ausserdem haben die Unternehmen die Corona-Krise genutzt, um ihre Strukturen zu säubern. Das führt dazu, dass die zukünftigen Margen der Unternehmen relativ gut sein werden. Sobald sich die Wirtschaft wieder erholt, werden die Erträge steigen, während gleichzeitig die Kosten tief bleiben. Auch das haben wir nach der Finanzkrise gesehen.

Was halten Sie von der Idee, von Wachstums- in Value-Titel umzuschichten?

Dass die Zeit der Wachstumstitel vorbei sei, hört man ja schon seit Jahren – vor allem von jenen, die unter der schwachen Performance von Value-Titeln gelitten haben. Bewahrheitet hat es sich bis heute nicht. Im jetzigen Umfeld, in dem man grundsätzlich von einer wirtschaftlichen Erholung ausgeht, ist dieser Ansatz weiterhin nicht der richtige.

Würden Sie auch weiterhin zu den einschlägigen Growth-Titeln in den USA raten? Deren Kurse stiegen ja in diesem Jahr in schwindelerregende Höhen.

Ich weiss nicht, ob ich eine Tesla zum aktuellen Kurs kaufen möchte. Aber die grossen US-Tech-Titel gehören mittel- bis langfristig in ein Portfolio. Um die kommt man schlicht nicht herum. Ich rede da von Microsoft, Apple, Amazon oder Alphabet. Firmen also, die regelmässig stabile Erträge generieren. Kurzfristig ist es aber sicherlich nicht schlecht, mal einen Teil der Gewinne zu realisieren, um den Anteil dieser Tech-Werte im Portfolio auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren.

Die Banken-Titel haben zuletzt europaweit durchaus positiv überraschen können. Deutet sich da ein wenig Licht am Ende des Tunnels an?

Die Banken gehören zu den Corona-Profiteuren, weil die Handelsaktivität der Kunden insbesondere im Frühjahr sehr gross war. Aber das ist kein Dauerzustand. Die zwei Grundprobleme der Banken sind nach wie vor ungelöst. Das Tiefzinsumfeld, welches auf ihr Zinsertragsgeschäft lastet und die weiter ungelöste Frage, wie ihr zukünftiges Geschäftsmodell eigentlich aussehen soll. Insbesondere bei Grossbanken empfiehlt sich weiterhin kein Einstieg.

Welche Chancen sehen Sie auf dem Schweizer Aktienmarkt?

Industrieunternehmen werden zunehmend interessant. Die Corona-Krise wird irgendwann – ich denke im Verlaufe des nächsten Jahres – vorbei sein. Wir werden einen Impfstoff bekommen und uns allgemein an den Umgang mit dem Virus gewöhnen. Die Wirtschaft wird sich in den nächsten Jahren nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den USA und anderswo erholen. In China geht es ja schon wieder aufwärts. Davon profitieren auch die Schweizer Industrie-Titel.

Welche Titel konkret?

Ich denke da an SGS oder Schindler. Aber auch die in Asien exponierte DKSH dürfte im nächsten Jahr sicher profitieren.

Wen haben Sie noch auf dem Schirm?

Es gibt noch immer Titel, die in der Corona-Krise zu hart abgestraft wurden, etwa LafargeHolcim oder Vifor Pharma. Auch bei Swatch frage ich mich, ob es tatsächlich gerechtfertigt ist, dass deren Kurse derart unter Druck geraten sind. Bei einem Erholungsszenario werden diese Titel zu den Gewinnern gehören. Ähnliches gilt für Versicherungen. Dort fand während der Corona-Krise eine Art Sippenhaftung statt, in der alle nach unten gezogen wurden. Natürlich ist das Umfeld tiefer Zinsen gerade für Lebensversicherungen nicht optimal. Trotzdem kann ich guten Gewissens eine Swiss Life oder Swiss Re empfehlen.

Was spricht dafür?

Diese Unternehmen haben eine hohe Qualität und werden sich von den Belastungen durch die Corona-Krise, die es zweifellos gibt, erholen und zurückkommen. Als Anleger muss man sich darauf einstellen: Die Wirtschaft wird sich von der Corona-Krise erholen. Es ist wichtig, dass man sich als Anleger jetzt dafür positioniert.

Von welchen Titeln raten Sie ab?

Kurzfristig sehe ich Risiken bei den Schweizer Tech-Titeln, etwa bei Logitech oder AMS, weil die mittlerweile doch sehr hoch bewertet sind. Hier bieten sich sicher Teil-Realisationen der Gewinne an.

Ein Titel, der ebenfalls sehr hoch bewertet ist, ist Dauer-Kursrakete Lonza.

Lonza profitiert von der Corona-Impfstoff-Phantasie. Ein Kauf zum jetzigen Zeitpunkt bietet sich auch hier nicht zwingend an.

Wenn die Wirtschaftserholung einsetzt: Wird die Reisebranche schnell davon profitieren?

Nein, die Erholung wird hier länger dauern. Der negative Einfluss von Corona ist hier nachhaltiger. Die Leute werden auch im nächsten Jahr Bedenken haben, in die Ferne zu reisen.

In den letzten Tagen hat sich der Schweizer Franken wieder etwas aufgewertet. Wie geht es hier weiter?

Der Franken wird sich im nächsten Jahr relativ stabil verhalten, weil die Weltwirtschaft allgemein wieder besser laufen wird. Die Schweizerische Nationalbank wird keine allzu abrupte Aufwertung zulassen. Ich gehe auch nicht von einer Spekulation auf einen extrem starken Franken aus. Andererseits sehe ich auch keine grosse Möglichkeit einer Abwertung des Frankens. Dem Dollar traue ich im nächsten Jahr eine stärkere Entwicklung zu, weil sich die Wirtschaft in den USA schneller erholen wird als in Europa.

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