cash.ch: Trotz der jüngsten Erholung bleibt vom Ausverkauf vor gut zwei Wochen ein fahler Nachgeschmack zurück. War die Korrektur überfällig?

Dirk Steffen: Ich würde nicht unbedingt sagen, dass die Korrektur überfällig war. Es gab keine stark überbewerteten oder völlig übertriebenen Kurse. Die starke Performance der BigTech-Unternehmen, wie den "Magnificent Seven", wurde grösstenteils durch starke Gewinnentwicklungen getrieben. Die Märkte werden nicht immer ausschliesslich durch fundamentale Faktoren beeinflusst, sondern es spielen auch viele technische Faktoren eine Rolle. In diesem Fall hatte sich einiges aufgebaut.

Was hat sich aufgebaut?

Zum einen gab es vor der Korrektur eine starke Performance, und die Hedgefonds waren ziemlich einseitig in bullishen Positionen. Damit sind wir in eine Phase eingetreten, in der aufgrund der Sommerzeit bereits ein geringeres Handelsvolumen vorhanden war, was den Markt zusätzlich anfällig gemacht hat.

Das Narrativ hat sich verändert. Früher waren schlechte Nachrichten gut für die Börsen, jetzt sind sie jedoch schlecht. Wie bewerten Sie die Situation?

Ich bin der Meinung, dass schlechte Nachrichten immer schlecht sind. Der Markt kann jedoch manchmal daraus etwas Gutes machen, da er eine Reaktion der Fiskal- oder Geldpolitik antizipiert. Es gibt jedoch noch weitere Faktoren, die Einfluss auf die Märkte haben. Die jüngste Korrektur ist nicht zufällig passiert, sondern begann recht präzise am 11. Juli.

Können Sie das genauer erläutern?

An diesem Tag wurden positive US-Inflationsdaten veröffentlicht, woraufhin die Zinsen wieder gesunken sind. Diese Reaktion erfolgte nicht aufgrund von Rezessionsängsten, sondern weil die Preisdynamik etwas schwächer war als erwartet. Die Rentenmärkte reagierten darauf positiv und fielen, was zu einer starken Rotation führte. Innerhalb weniger Stunden erreichte der Nasdaq 100 einen Rückgang von 2 Prozent, während der Russell 2000, der Small Caps repräsentiert, um 3 Prozent stieg. Dies ist eigentlich gut für uns, da wir uns auch in diese Richtung positionieren möchten. Wir wollen die gut aufgestellten, profitablen Mega Caps in unserem Portfolio haben, haben jedoch im Juni beschlossen, auch Small und Mid Caps aufzunehmen, um unser Portfolio breiter aufzustellen. 

Danach begann die Berichtssaison in den USA...

Die Finanztitel in den USA haben auch sehr gute Ergebnisse geliefert, sogar besser als die Markterwartungen. Es war ein guter Start in die Berichtssaison, insbesondere für die Big Tech-Unternehmen, die ebenfalls starke Ergebnisse präsentierten. Sie waren 2,6 Prozent besser als erwartet. Dennoch wünschen sich die Anleger manchmal fast schon, dass die Erwartungen um zweistellige Prozentzahlen übertroffen werden. Offensichtlich sind die Anleger jetzt wählerischer geworden. Wenn man genauer hinschaut, ging es bei den Reaktionen der Märkte vor allem um den Ausblick. Es ging nicht so sehr um die bereits berichteten Zahlen, sondern um die leichten Abwärtsanpassungen für die nächsten Quartale. Dies setzte sich immer weiter fort und führte zu diesem starken Ausverkauf.

Aber waren nicht schwache Konjunkturdaten aus den USA der Auslöser?

Es begann mit einem schwachen Geschäftsklima im verarbeitenden Gewerbe in den USA. Am Freitag, 2. August gab es Berichte über einen vermeintlich schwachen Arbeitsmarktbericht, und da herrschte weltweit die Angst vor einer Rezession. Der Markt sagte zwischenzeitlich, dass die USA kurz vor einer Rezession stehen und die Fed wahrscheinlich die Zinsen dramatisch senken muss. Das war und ist jedoch nicht unsere Meinung.

Ist diese Haltung nicht ein wenig erratisch?

Ja, das kann man wohl sagen, und das hat viel mit dem August zu tun, da es sich um den Sommerhandel handelt. Inzwischen hat eine Marktberuhigung eingesetzt. Es gab sicherlich einige Investoren, die gerne eine Marktkorrektur sehen wollten, da sie nicht vollständig in den Bereichen investiert waren, die stark performt haben. Es gab zudem passende Aussagen von Hedgefonds, die das unterstützten. All dies fügt sich natürlich in die übliche Kommunikation ein, die wir normalerweise erhalten, und die Handelsmöglichkeiten sind sehr begrenzt.

Also wurde das Narrativ nun umgekehrt. Wie steht es tatsächlich um die US-Wirtschaft?

Im Dienstleistungssektor gab es gute Nachrichten. Was wir bei der Deutschen Bank sehen, ist, dass normalerweise nicht der Industriesektor über eine mögliche Rezession in den USA entscheidet, da er einen relativ kleinen Anteil hat. Der Dienstleistungssektor ist viel relevanter.

Aber wie beurteilen Sie derzeit die US-Wirtschaft und die Konjunktur? Was sind Ihre Erwartungen?

Wir gehen von einer Verlangsamung aus, jedoch nicht von einer Rezession im Basisszenario. Vor allem nicht von einer weitreichenden Rezession mit einem schwachen Arbeitsmarkt und einer langanhaltenden Einschränkung der Wirtschaftsaktivität. Es ist vorstellbar, dass es zu einer technischen Rezession kommt, mit zwei aufeinanderfolgenden negativen Quartalen. Wenn man beispielsweise die 90er Jahre betrachtet, erkennt man ein ‹Twin Peaks›-Phänomen, also eine Verlangsamung, aber keine Rezession und ein späteres Wiederanziehen der Konjunktur. Das ist meiner Meinung nach normal, da jetzt die spezifischen Effekte von COVID-19 und die Unterstützungsmassnahmen auslaufen. Zudem haben wir hier auch Auswirkungen durch die höheren Zinsen, die als eine Art Bremskraft wirken.

Bewegen wir uns auf eine normalere Phase zu?

Ich verfolge die Überzeugung, dass das Ende der ‹Great Moderation› auch zu einer normaleren Phase gehört.

Und wie sehen Sie die nächsten Monate? Was wird die Märkte mehr beeinflussen - die Konjunktur oder die Geldpolitik?

Die Konjunktur, also die reale wirtschaftliche Aktivität, ist entscheidend. Die Zentralbanken haben nur begrenzten Einfluss als Dämpfer. Eine Phase wie im Jahr 2022, in der das Wachstum nachlässt und die Zinsen steigen, wäre natürlich das ungünstigste Szenario für den Aktienmarkt. Wenn die Wirtschaft jedoch weder zu heiss noch zu kalt ist, dann ist dies ein gutes Umfeld für die Aktienmärkte. Daher sind wir der Meinung, dass, wenn sich die Sommer-Volatilität abbaut, auch konjunkturabhängige Investments wieder interessant werden könnten. Neben Large Caps halten weiterhin an Small Caps als Beimischung fest, da niedrige Zinsen und die Möglichkeit eines mittelfristigen Konjunkturaufschwungs gegeben sind.

Sehen Sie derzeit Chancen, um neue Positionen aufzubauen? Oder sollte man noch abwarten?

Die Antwort beinhaltet beides. Wir sehen den Rücksetzer als Chance, erkennen jedoch auch weiterhin vorhandene Risiken. Es ist möglich, dass noch nicht alle Long-Positionen aus dem System abgebaut wurden und es noch weitere Anpassungen geben kann. Wir konzentrieren uns auf neue Investitionen, die uns bereits vor dem technischen Sell-Off interessiert haben. Wir setzen auf die Barbell-Strategie, also Langhantel, mit Investitionen in Mega Caps und Small Caps.

Auch die geopolitischen Spannungen im Nahen Osten sorgen für Schlagzeilen. Man sagt, politische Börsen haben kurze Beine. Wie sehen Sie das?

Die Situation ist natürlich sehr bedrohlich, sowohl in menschlicher Hinsicht als auch in Bezug auf den Einfluss auf die Kapitalmärkte, worauf wir uns konzentrieren. Insbesondere die Ölmärkte sind davon betroffen. Bisher haben wir jedoch aufgrund der aktuellen Entwicklung keine grossen Auswirkungen auf die Ölpreise gesehen. Tatsächlich sind die Ölpreise aufgrund der erwähnten Rezessionsängste gefallen.

Im November finden die US-Präsidentschaftswahlen statt. Es gibt zwei Lager. Die einen sagen, es spielt im Grunde keine Rolle, wer gewinnt, da beide Seiten viel Geld ausgeben werden. Donald Trump ist vielleicht nur etwas lauter. Die anderen sagen, dass Donald Trump unberechenbar ist und möglicherweise ein Problem für die Geopolitik darstellen könnte. Wie sehen Sie das?

Was wir bereits sagen können, sind die Hinweise auf die fiskalpolitische Ausrichtung. In diesem Punkt stimme ich tatsächlich dem genannten Lager zu, dass wir auf einen Weg des fiskalischen Defizit-Spendings zusteuern, unabhängig davon, wer gewinnt. Aus verschiedenen Gründen, je nach Lager. Weiteres lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersagen, beispielsweise wie es mit dem Inflation Reduction Act oder der CHIPS and Science Act weitergehen wird. Was sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgebaut hat, nicht nur in den USA, deutet darauf hin, dass wahrscheinlich auch eine gewisse Umverteilung stattfinden wird. Und das hat letztendlich auch eine inflationssteigernde Wirkung.

Wird die Inflation also ein weiterhin relevantes Thema sein?

Ja, das wird sie. Dies erklärt auch, warum die Zentralbanken so zögerlich sind. Bei den Zentralbanken arbeiten Hunderte von Ökonomen, die sich intensiv mit Inflationsepisoden in der Geschichte auseinandergesetzt haben. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass die Inflationserwartungen eine entscheidende Rolle spielen, da sie Auswirkungen auf Gehaltsverhandlungen und berüchtigte Zweit-Runden-Effekte haben. Aus diesem Grund agieren die Zentralbanken äusserst vorsichtig. Sie wissen, dass die Bekämpfung von Inflation in der Regel schwierig ist.

Ist der Markt zu optimistisch?

Die Zentralbanken haben die Aufgabe, die Inflation zu kontrollieren, die teilweise bei Dienstleistungen immer noch recht hoch ist. Es ist wahrscheinlich, dass die Fed nicht so viel tun kann, wie der Markt derzeit erwartet.

Was denken Sie dann? Wie sieht Ihr Zinsausblick für dieses Jahr aus?

Die US-Notenbank wird voraussichtlich im September die Zinsen senken. Bei der EZB gehen wir eher davon aus, dass die Leitzinsen in diesem Jahr etwas stärker gesenkt werden als in den USA.

Welche Marktgefahr sehen Sie derzeit, die möglicherweise nicht so beachtet wird?

Die kurze Antwort ist, dass es genau das Risiko ist, über das wir gerade nicht sprechen. Wir haben das Thema einer Rezession angesprochen, das für uns ein Risiko darstellt. Wenn wir tatsächlich in eine scharfe Rezession geraten, könnte dies zu Problemen für den Markt führen. Wir haben auch die geopolitischen Entwicklungen erwähnt, bei denen wir uns bewusst sind, dass sie eine Bedeutung haben. Das Thema Inflation ist für uns weiterhin ein mittelfristiges Anliegen, obwohl es kurzfristig eine Entspannung gibt. In Bezug auf den Technologiesektor sind wir optimistischer als manche Marktteilnehmer und glauben, dass seine Stärke anhalten kann.

Warum sind Sie optimistischer in Bezug auf die Technologie?

Man kann sehen, dass Unternehmen ziemlich schnell reagieren. Zum Beispiel im Jahr 2022 ging es um grosse Investitionen, bei denen Kapitaldisziplin anscheinend ignoriert wurde. Das hat sich dann stark geändert und führte zu einer völlig anderen Kursbewegung. 

Doch gerade Big-Tech hat stark verloren...

Kurskorrekturen gehören einfach dazu, wenn es zu Kursbewegungen von über 100 Prozent in kürzester Zeit kommt. Wenn wir einen Vergleich mit den letzten Jahren der 90er Jahre ziehen, waren die Bewertungen der damals zehn grössten Unternehmen doppelt so hoch wie die derzeitige Bewertung vor dem Sell-off bei den Big-Tech. Die starke Gewinnentwicklung hat dieses Mal eine viel stärkere Rolle gespielt als in der spekulativen Phase des Hypes in den 90ern.

Ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen?

Ja, in der Tat. Es gibt verschiedene Marktphasen. Erst gibt es eine Phase mit extrem niedrigen Bewertungen, dann folgt die Erholungsphase, in der die Bewertungen fair sind. Erst später, in einem starken Bullenmarkt, erreichen wir Bewertungen, die nicht mehr gerechtfertigt sind, aber das haben wir noch nicht erreicht. Die derzeitige Korrektur ist eher üblich und findet zwei- bis dreimal im Jahr statt.

Das sind beruhigende Worte...

Am Ende muss man etwas Optimismus wagen, oder?

Und wo sehen Sie derzeit die Verlierer im gegenwärtigen Marktumfeld für den Rest des Jahres? Wo sollte man sich nicht positionieren?

Wenn wir uns den Rückgang seit Juli anschauen, sehen wir, dass defensive Sektoren wie Versorger, Food & Beverage und nicht-zyklischer Konsum, auch als stabile Sektoren bezeichnet, stark performt haben. Die Annahme einer fortwährenden Rotation von Wachstum, Technologie und zyklischen Sektoren hin zu defensiven Sektoren, so wie wir es in den letzten Wochen gesehen haben, ist problematisch. Wir empfehlen, sich derzeit nicht auf defensive Sektoren zu konzentrieren.

Wo sehen Sie Chancen?

Wir sind uns bewusst, dass der Finanzsektor volatil ist, beispielsweise haben Finanzwerte in Europa gelitten. Die fundamentale Situation ist jedoch weiterhin stark. Angesichts unserer Prognose, dass wir keine schwere Rezession erleben werden, erwarten wir, dass sich die Finanzwerte wieder erholen werden. Wenn wir uns die Ausschüttungsquoten anschauen, erreichen wir im europäischen Bankensektor allein durch Aktienrückkäufe und Dividenden eine Rendite von über 10 Prozent. Dies ist ein Beispiel für Bereiche, auf die man jetzt wieder genauer schauen kann.

Dirk Steffen ist Global Chief Investment Stratege und Chief Investment Officer für Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA) bei der Privatkundenbank der Deutschen Bank. Er formuliert die Kapitalmarktstrategie für Privatkunden und verantwortet ETF-basierte Multi-Asset-Fonds. Er ist seit zwanzig Jahren für die Deutsche Bank in Frankfurt mit Stationen in London tätig, befasst sich mit traditionellen und alternativen Anlageklassen sowie mit Fragen der Vermögensallokation.

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