cash.ch: Herr Rickli, inwiefern hat sich die geopolitische Sicherheitslage in den letzten fünf Jahren verändert?

Jean-Marc Rickli: In den letzten fünf Jahren hatten wir zwei grosse Krisen: Covid und den Krieg in der Ukraine. Covid hat demonstriert, dass die Ära der «glücklichen» Globalisierung vorbei ist. Die Idee, die ähnlich bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts bestand, dass durch Handel Friede zwischen Nationen entsteht und die Welt ein besserer Ort wird, führte zur Aufnahme von China in die WTO im Jahr 2001. Just-in-time-Produktion, hoch dezentralisierte Produktionsmodelle, wo keine grossen Lagerbestände mehr bestehen, waren die Folge der Globalisierung. 

Covid demonstrierte die Limiten dieses Wirtschaftssystems?

Covid demonstrierte, dass in einer akuten Krise Staaten die nationalen Interessen Allem voranstellen. Das Wettrennen um Masken und Impfstoffe war davon geprägt. Alle Länder, die die notwendigen Produktionskapazitäten hatten, beschlossen, für sich selbst zu produzieren. Es ist jedoch erwähnenswert, dass es den EU-Ländern nach dem ursprünglichen Schock und dem Wettlauf um den Schutz ihrer nationalen Interessen gelang, zusammenzuarbeiten.

Es zeigte sich, dass man starke Abhängigkeiten entwickelt hatte?

Der Westen bemerkte, dass man bezüglich Medikamente und insbesondere pharmazeutischer Wirkstoffe höchst abhängig von China und Indien war. Zusätzlich kritisierte China während der Covid-Krise 2020 öffentlich und konfrontativ den Westen. Der Westen realisierte, dass man sich nicht mehr so fest auf China und andere Länder verlassen konnte und dass Chinas Aussenpolitik viel selbstbewusster war und von einer neuen Generation von Diplomaten, den so genannten Wolfskriegsdiplomaten, durchgeführt wurde.

Dann kam die neue Krise…

Dann brach der Krieg in der Ukraine aus, wo ein ähnliches Zusammentreffen des Westens mit China stattfand. Russland und China dachten, was auch immer man tut, der Westen würde nicht reagieren. Doch in der Ukraine reagierte der Westen mit militärischen und wirtschaftlichen Hilfen, die vorher ungesehen waren. 

Inwiefern hat dies die chinesische Haltung verändert?

China realisierte, dass der Westen reagiert, wenn man zu stark pusht. Und das können sie sich nicht leisten wegen der ökonomischen Abhängigkeiten von der EU. Russland hat ein BIP zwischen Spanien und Italien. Russland kann für China die EU als Handelspartner nicht ersetzen. Doch China realisierte gleichzeitig, dass man zu stark vom Westen abhängig ist. 

Was ist die Konsequenz?

Die Ukraine-Krise hat eine neue Weltordnung entstehen lassen. Wobei Grundzüge davon bereits bei den Olympischen Spielen in Peking sichtbar wurden. Einen Tag vor der Eröffnung trafen sich der chinesische Präsident Xi Jinping und der russische Präsident Wladimir Putin. Nach dem Treffen gaben sie ein Statement heraus, dass grundsätzlich das Ende der westlich geprägten Nachkriegsordnung unter der Führung der USA als Inhalt hatte. Neu sollte die Welt multipolar sein und auf nicht westlichen Werten beruhen.

Eine Zeitenwende?

Es ist eine Welt verschiedener Weltanschauungen. Eine westliche Sicht basierend auf Multilateralismus und Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden. Demgegenüber stehen autoritäre Staaten mit einer multipolaren Sicht, die für ein Ende der westlichen Hegemonie und liberaler Werte argumentieren. Beim BRICS-Gipfel versuchten China und Russland den sogenannten globalen Süden für sich zu gewinnen. Dies wurde auch deutlich, als die westlichen Länder daran scheiterten, Russland auf dem jüngsten G20-Gipfel in Neu-Delhi für seinen Krieg in der Ukraine zu verurteilen. Dort befindet sich der neue Kampfplatz der internationalen Aussenpolitik.

Der Westen gegen China und Russland. Befinden wir uns in einem neuen Kalten Krieg?

Nein, wir befinden uns nicht in einem neuen Kalten Krieg. Denn der Kalte Krieg wird durch zwei konkurrierende Ideologien und Supermächte definiert. Was wir hinsichtlich der internationalen Machtstrukturen feststellen, ist ein zurückgehende hegemoniale Macht der USA und der Aufstieg von China als Konkurrent. Das führt zu den Veränderungen, die wir derzeit beobachten. 

Aber es sind auch konkurrierende Werthaltungen…

Man kann sagen, dass die USA westliche Werte repräsentiert, während China für autoritäre Haltungen steht. Die zwei beschriebenen Krisen führten diese zwei Länder zu einer technologischen Abkopplung. Beide realisierten die eigene Abhängigkeit von dem Anderen. Dies führte in den USA letztes Jahr zum Microchip-Act, der zum Ziel hat, dass keine Technologie in Bezug zur Künstlichen Intelligenz oder Quantitative Computing in chinesische Hände fällt. China versucht hier eigene Technologien zu entwickeln, da es bei Halbleitern beispielsweise schwach ist. Sie benötigen Jahre um dies aufzuholen, TSMC aus Taiwan ist ja bekanntlich verantwortlich für ungefähr 90 Prozent der Produktion der besten Halbleiter der Welt - 68 Prozent beträgt der Marktanteil bei allen Halbleitern.

Inwiefern hat der Ukraine-Krieg diesem Konkurrenzkampf etwas verändert?

Der Krieg in der Ukraine hat Russland als potenziellen militärischen Konkurrenten für China ausgeschaltet, worauf China klar die Führerschaft in dieser Partnerschaft eingenommen hat. Russland ist, abgesehen von nuklearen Kapazitäten, militärisch irrelevant geworden. Es wird Jahre dauern, das Militär nach den Verlusten in der Ukraine wieder aufzubauen.

Wie zeigt sich der zunehmende chinesische Einfluss in der Welt?

Dieses Jahr trafen sich die Aussenminister von Saudi Arabien und Iran auf Vermittlung von China und schlossen eine Vereinbarung ab. Das ist etwas Neues. Das China der Vergangenheit agierte nicht auf diese Art auf dem internationalen Parkett. Im Zuge dessen sah man auch eine proaktive und aggressivere Haltung gegenüber Taiwan. Gleichzeitig agierte China auch aggressiv im Südchinesischen Meer, indem kleinste Inseln als Territorium beansprucht und besetzt wurden. Diese Haltung macht die Nachbarn sehr nervös. Als Reaktion haben die USA ein Abkommen mit Philippinen für vier neue Militärbasen abgeschlossen. Im August dieses Jahres gaben die USA, Südkorea und Japan in Camp David den Startschuss für eine trilaterale Sicherheitskooperation, ein Ziel, das Washington seit mehr als 50 Jahren anstrebt. 

Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die Politik von Nordkorea?

Die Fokussierung des Westens auf die Ukraine bot Nordkorea eine günstige Gelegenheit, um Druck aufzubauen. 2022 war ein Rekordjahr bezüglich Raketentests - 68, zehn mal mehr als im Jahr 2021. Diese Entwicklung setzt sich auch dieses Jahr fort. Jetzt finden Gespräche zwischen Russland und Nordkorea über Waffen- und Munitionslieferungen statt.

Der Westen wird vorgeführt?

Die westliche Dominanz wird in Frage gestellt. Gemäss Economist Intelligence Unit sind nur acht Prozent der weltweiten Länder heute noch richtige Demokratien. Gleichzeitig besteht ein antiwestlicher, antikolonialer Diskurs vor allem in Afrika, aber zunehmend auch im gesamten globalen Süden. In Mali gab es einen Coup und die französische Schutzmacht wurde durch Wagner-Söldern ausgetauscht. Die Welt ist viel umkämpfter geworden. Länder wie Südafrika oder Brasilien, die zuvor international keine Rolle innehatten, zeigen Präsenz und positionieren sich - auch gegen den Westen.

Bisher ging eine Wachablösung einer Supermacht nie friedlich vor sich…

Der Druck auf die westliche Dominanz hat bereits zu multiplen Krisen geführt und wird wohl zu weiteren führen. Der Krieg in Yemen und der Bürgerkrieg in Syrien sind nicht gelöst, die Ideologie des islamischen Terrorismus existiert immer noch, der Westen wird in Afrika, insbesondere in der Sahelzone, zunehmend an den Rand gedrängt, Nordkorea agiert immer aggressiver, die Ansprüche von China auf Taiwan werden immer lauter. Gleichzeitig sind wir mit Problemen konfrontiert, die internationale Koordination benötigen.

Welche Probleme sprechen Sie hier an?

Klimawandel oder die Governance der Künstliche Intelligenz (KI) benötigen ein Mindestmass an internationalem Verständnis über ein übergeordnetes gemeinsames Interesse. Dass dieses nicht existiert, ist besorgniserregend.

Diese Ausgangslage spricht dafür, dass sich die Welt zunehmend in eine gefährliche Entwicklung bewegt?

Für eine angemessene Antwort auf den Klimawandel ist eine globale Koordination der Bemühungen notwendig. Doch jedes Land verfolgt seine Eigeninteressen. Der Westen will den Verbrauch von Kohle und Öl zurückfahren. China hingegen steigert den Konsum von Kohle und Russland und Saudi Arabien sind von Rohöl-Verkäufen abhängig. Das Scheitern der Einigung auf eine weitere Reduzierung der Kohlenstoffemissionen auf der letzten COP-Tagung in Sharm El Sheikh im vergangenen Jahr ist ein typisches Beispiel dafür.

Warum haben Sie vor der Künstlichen Intelligenz Angst?

Die Macht, die diese Technologie potenziell militärisch und darüber hinaus bieten kann, ist so wichtig und bedeutend, dass bis jetzt keine globale Übereinkunft über eine Limitierung der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz getroffen wurde. Bei Killer-Robotern wollen beispielsweise Russland keine Verbote, die USA und China sind auch zurückhaltend. Warum? Weil diese Waffensysteme strategische Vorteile bieten.

Was bedeutet dies für zukünftige Konflikte?

Wir bewegen uns hin zu einem viel kompetitativeren internationalen Umfeld, wo westliche Dominanz spürbar nachlässt. Und wenn sich eine Supermacht im Niedergang befindet und ein Konkurrent aufsteigt, dann muss dies zu einer Krise führen. Daher werden Grossmächte versuchen, alles auszunutzen, was ihnen einen strategischen Vorteil verschafft. Heutzutage sind Wissenschaft und Technologie ein wichtiger Faktor für die globale Macht. 

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich…

Genau. Das internationale System ist in ständiger Bewegung. In den letzten Jahrhunderten hatte man verschiedene Länder, die die Welt zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte dominierten. Und vermutlich beobachten wir jetzt eine solche Transformation. Doch ein Element unterscheidet sich deutlich von der Vergangenheit.

Von was sprechen Sie?

Man hat neue Akteure, die Einfluss auf das Machtgleichgewicht im internationalen System haben.

Wer sind diese Akteure? Und von woher kommt dieser Einfluss?

Die Grundlage ist die Technologie. Technologie stattet Individuen mit einer in der Geschichte ungesehenen Macht aus. Als die Marktkapitalisierung von Apple vor gut zwei Jahren 2,2 Billionen Dollar erreichte, entsprach dieser Wert dem achtreichsten Land in der Welt. Man hat heute Unternehmen, die mehr finanzielle Macht haben als die meisten Länder. Und es gibt Individuen, die mehr Wohlstand als die meisten Staaten haben. Elon Musk beispielsweise besitzt mit SpaceX mehr als die Hälfte (4500) aller Satelliten im Weltraum und dominiert den globalen Satellitenstartmarkt.

Elon Musk ist mächtiger als manche Staaten…

Mit SpaceX bietet er der Ukraine Internetdienstleistungen an. Gerade wurde bekannt, dass Elon Musk den Ukrainern letztes Jahr nicht erlaubt hat, mit diesen Verbindungen einen Angriff auf der Krim auszuführen.

Ist dies nicht einfach eine begrenzte Anzahl von sehr reichen Menschen?

Es geht nicht nur um finanzielle Macht, sondern wir erleben auch die Demokratisierung disruptiver Technologien in einem noch nie dagewesenen Tempo. Heutzutage hat man über das Internet einfach Zugang zum gesamthaften Wissen der Menschheit. Das heutige iPhone ist viel leistungsfähiger als der beste Supercomputer im Jahr 1999. Und mit der generativen KI kann massive Desinformation in einem globalen Ausmass einfach erzeugt werden.

Individuen generell sind für die Gesellschaft gefährlicher?

KI kann in der Kombination mit Biologie beispielsweise für böse Absichten verwendet werden. Wenn man an den Aufstieg von ISIS im letzten Jahrzehnt denkt, wird die schlechte Intention von Gruppierungen offenbar. Wenn solche Fähigkeiten in die Hände von solchen Gruppierungen geraten, wäre dies ein Gamechanger. 

Was können Staaten gegen diese Gefahren unternehmen?

Es ist erwähnenswert, dass die neuen Technologien ein fantastisches Potenzial für positive Anwendungen bieten. Doch, wir steuern auf eine Welt zu, die mehr polarisiert und konfliktreicher ist. Gleichzeitig ist die Vorhersagbarkeit, was passieren könnte, reduziert. Denn es gibt neue Akteure, die plötzlich auf der Bildfläche erscheinen können. Man hat heute 8 Milliarden Individuen, die eine potenzielle Quelle für Unsicherheit sind. Und gerade dieser Umstand ist ein totaler Gamechanger bezüglich der internationalen Sicherheit. Selbst die USA mit einem Geheimdienstbudget von ungefähr 90 Milliarden Dollar können das eigene Land nicht mehr gegen alle potenziellen Risiken schützen. Wir haben eine Ära betreten, wo die Fähigkeit, Risiken vorherzusagen, stark eingeschränkt ist. Dies bedeutet, dass die Gesellschaften und Staaten widerstandsfähiger werden und daher viel mehr in vorausschauende Fähigkeiten investieren müssen. 

Dr. Jean-Marc Rickli ist Leiter der Abteilung Globale und neu auftretende Risiken am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP) in Genf, Schweiz. Er ist Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Neue Sicherheitsherausforderungen“ des NATO Partnership for Peace Consortium und leitender Berater für die KI-Initiative (Künstliche Intelligenz) bei der Future Society. Er vertritt die GCSP bei den Vereinten Nationen im Rahmen der Governmental Group of Experts on Lethal Autonomous Weapons Systems (LAWS). Er ist Mitglied des Beirats von Tech4Trust, dem ersten Schweizer Startup-Beschleunigungsprogramm im Bereich digitales Vertrauen und Cybersicherheit. 2020 wurde er von der Schweizer Zeitung Le Temps als einer der 100 einflussreichsten Westschweizer nominiert. Vor dieser Ernennung war Dr. Rickli Assistenzprofessor am Department of Defense Studies des King’s College London. Dr. Rickli erhielt seinen Ph.D. und MPhil in Internationalen Beziehungen von der Universität Oxford, Grossbritannien, wo er auch Berrow-Stipendiat am Lincoln College war. Sein neuestes Buch, das bei Georgetown University Press veröffentlicht wurde, trägt den Titel “Surrogate Warfare: The Transformation of War in the Twenty-first Century”. Er hat in Europa, den USA, dem Nahen Osten und China gelebt und gearbeitet.

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