cash.ch: Frau Wilding, die Anleihemärkte scheinen erleichtert zu sein, dass die Inflation in den USA endlich sinkt. Täuscht der Eindruck?

Tiffany Wilding: Der jüngste Rückgang des US-Konsumtenpreisindex (CPI) war in einem grösseren Kontext keine grosse Überraschung. Die Kerninflation lag nur etwa fünf Basispunkte unter unserer Prognose vom Oktober. Die Komponenten, die im Vergleich zu unserer Prognose zu der Überraschung beitrugen, waren Reisedienstleistungen. Diese sind aber volatil. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass sich der Markt auf die Entwicklung der Mieten in den Vereinigten Staaten konzentriert hat, die einen grossen Teil des CPI ausmachen. Diese Mietkomponenten waren in letzter Zeit ebenfalls volatil, aber wenn man den 'Datenlärm" herausfiltert, befindet sich die Mietinflation deutlich auf einem Rückmarsch. Insgesamt änderte aber der Oktober-Datensatz nichts an der Gesamtlage, denn die Güterpreise normalisieren sich nach pandemiebedingten Verzerrungen, und die Inflation bei Unterkünften mässigt sich. Es bleibt aber zu konstatieren, dass die Inflation in Kategorien, die direkter von den Lohnkosten beeinflusst werden, immer noch hartnäckig ist.

Wird sich die Inflation, bereinigt um die volatilen Kategorien, weiter normalisieren?

Sowohl die Gesamt- als auch die Kerninflation haben sich gegenüber ihren Höchstständen deutlich abgeschwächt. Dies, weil sich sowohl die Nachfrage als auch das Angebot normalisiert haben. Die Auswirkungen der fiskalischen Anreize sowie der Produktknappheit lassen nach. Es bleibt jedoch immer noch die Frage offen, was der zugrunde liegende Trend für das Ausbleiben der Inflation und der Anstieg der Arbeitslosenquote ist, sobald diese pandemiebedingten Preisverzerrungen nachlassen. Da sich die Super-Kerninflation, auf die sich die Federal Reserve konzentriert, immer noch auf erhöhtem Niveau seitwärts bewegt, könnte dieser zugrunde liegende Trend bei der Super-Kerninflation höher ausfallen als das, womit die Fed zufrieden ist.

Was ist Ihre Inflationsprognose für das nächste Jahr?

Wir schätzen, dass der Verbraucherpreisindex irgendwo zwischen 2,5 und 3 Prozent liegt. Die Kerninflation (PCE) wird etwa auf dem gleichen Niveau liegen. Wir glauben, dass der Inflationsausblick in Verbindung mit unserer Erwartung einer stärkeren Abkühlung am Arbeitsmarkt mit der Prognose übereinstimmt, dass die Fed in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 mit Zinssenkungen beginnen wird.

Was bedeutet das für den Anleihemarkt und die Zinsen im nächsten Jahr?

Der Anstieg der US-Bondrenditen, den wir im Spätsommer und Frühherbst sahen, war nicht auf veränderte Erwartungen an den kurzfristigen Kurs der Fed-Geldpolitik zurückzuführen. Die Zinskurve wurde steiler. Normalerweise ist eine solche Entwicklung - insbesondere bei den Realzinsen - symptomatisch dafür, dass die Laufzeitprämien steigen und der Markt sich mehr Sorgen um die Angebotslage bei Staatsanleihen macht.

Sind diese höheren Renditen gleichbedeutend mit einer stärkeren Straffung der Geldpolitik?

Ein Anstieg der Renditen zehnjähriger Staatsanleihen um etwa 100 Basispunkte entspricht einer Straffung der Fed-Fundzinsen um etwa 75 Basispunkte.

Ist das hohe Angebot wegen der rekordhohen Budgetdefizite ein grosses Thema am Markt?

Wir glauben, dass die Aussicht auf ein grösseres Angebot an Staatsanleihen bereits eingepreist ist. Wir rechnen nicht mit einem explosionsartigen Anstieg der US-Haushaltsdefizite. Die USA haben derzeit kein Problem mit der Tragfähigkeit der öffentlichen Schulden. Die langfristigen Aussichten für die US-Defizite sind aber aufgrund der erwarteten künftigen Ausgaben wegen der alternden Bevölkerung besorgniserregend. Irgendwann muss es korrigiert werden, aber das bedeutet nicht, dass die Schulden heute nicht tragbar sind.

Sind Anleihen jetzt attraktiv, da es kurzfristig keine Angebotsprobleme gibt?

Mit dem jüngsten Vorstoss in Richtung einer Rendite von 5 Prozent für 10-jährige Staatsanleihen sehen die Anleiherenditen zunehmend attraktiv aus - dies gilt sowohl im langfristigen Renditevergleich und als auch im Vergleich zu Anlageklassen wie Aktien. Derzeit erzielen Anlegerinnen und Anleger durch die Anlage in hochverzinsliche Kredite von Unternehmen geringerer Qualität keine grossen zusätzlichen Spreads respektive zusätzlichen Renditeerträge.

Haben wir den Höhepunkt der US-Zinsen gesehen?

Die Zentralbanken haben begonnen, sich wohler zu fühlen, weil sie stärker davon überzeugt sind, dass sich die Inflation in die richtige Richtung bewegt. Die amerikanische Notenbank Fed signalisierte deutlich eine Pause bei den Zinserhöhungen, ähnlich wie andere Zentralbanken in entwickelten Märkten. Die Fed formulierte zudem, was geschehen müsste, damit sie die Zinserhöhungen wieder aufzunehmen würde: ein weiterhin über dem Trend liegendes Wachstum, Wiederbeschleunigung der Inflation und Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt, die nicht nachlassen. Ansonsten haben sie ziemlich deutlich gemacht, dass sich die Leitzinsen nun auf dem gewünschten Zinsniveau bewegen.

Eine Schweizer Investmentbank geht davon aus, dass die Fed die Zinsen im Jahr 2024 um 275 Basispunkte senken wird. Sind Sie einverstanden?

Die Fed teilte den Finanzmärkten mit, dass sie mit Zinssenkungen und der Normalisierung der Geldpolitik beginnen wird, sobald sie zuversichtlich sei, dass die Inflation ihr Ziel nachhaltig erreichen wird. Um zuversichtlich zu sein, muss ein besseres Gleichgewicht auf dem US-Arbeitsmarkt entstehen einschliesslich eines Anstiegs der Arbeitslosenquote. Das ist es, was wir jetzt bekommen. Die Arbeitslosenquote hat begonnen, langsam zu steigen, und wir haben eine Verbesserung bei den bisherigen Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt festgestellt. Es besteht zudem die Sorge, dass die Arbeitslosenquote schneller steigen wird. Dies würde darauf hindeuten, dass sich die USA am Rande einer Rezession befinden. Sollte dies der Fall sein, besteht kein Zweifel daran, dass die Fed die Leitzinsen rasch senken wird.

In welchem Ausmass senkt die Fed die Zinsen im Falle einer Rezession?

In einer Rezession senkt die Fed die Zinsen im Durchschnitt um 300 bis 500 Basispunkte, und die Fed hat Spielraum dafür. Wenn es hingegen nur zu einem leichten Abschwung und einer Wachstumsstagnation kommt, verlangsamt sich der Kürzungszyklus.

Wie gross ist das Rezessionsrisiko?

Wir gehen davon aus, dass das Wachstum in den USA im nächsten Jahr stagnieren wird und die Wahrscheinlichkeit einer Rezession hoch ist. Historisch gesehen - sprich die Geldpolitik straff ist und die Zentralbank die Zinsen aggressiv angehoben hat, um die Inflation zu dämpfen - kommt es in den Volkswirtschaften fast immer zu einer Art Rezession.

Die Hochzinsanleihen- und Aktienmärkte sind widerstandsfähig und deuten bisher nicht auf eine Rezession hin.

Die Kreditaufschläge im Allgemeinen und die Aktienrisikoprämie deuten darauf hin, dass die zusätzliche Gewinnrendite gegenüber Staatsanleihen die Wahrscheinlichkeit einer Rezession nicht ausreichend einpreist. Da die Aktienrisikoprämien gerade einmal in der Mitte des historischen Bereichs liegen oder wenn man die Aktiengewinnrendite im Vergleich zu BBB-Anleihen (Unternehmen oder Staaten mit einem BBB-Rating gelten als akzeptable Schuldner mit mittlerer Bonität, Anm. der Redaktion) betrachtet, können Anleger durch den Kauf einer BBB-Anleihe mehr Rendite erzielen als durch ein Investment am Aktienmarkt. Daher glauben wir nicht, dass eine Übergewichtung risikoreicherer Vermögenswerte wie Aktien in diesem unsicheren Umfeld für einen Investor einen grossen Nutzen hat. US-Bonds bieten angemessene Renditen für ein sicheres Portfolio. 

Verschieben deshalb Anleger Gelder aus den Aktienmärkten in die Anleihemärkte?

Nun, das ist es, was die Zentralbanker hoffen. Diese versuchen, alle Finanzierungsbedingungen zu verschärfen, um die Wirtschaft zu bremsen. Strengere Finanzierungsbedingungen führen nicht nur zu höheren Anleiherenditen, sondern auch zu grösseren Kreditspannen und niedrigeren Aktienkursen. Angespannte Finanzierungsbedingungen werden sich im Laufe der Zeit auf die Wirtschaft auswirken, da neue Kredite teurer werden und mehr Unternehmen ihre Schulden zu diesen neuen höheren Zinssätzen verlängern müssen. Wir schätzen, dass im nächsten Jahr Schulden in Höhe von etwa 500 Milliarden Dollar zu Zinssätzen um 350 Basispunkte über dem, was sie jetzt zahlen, verlängert werden müssen. Kleine und mittelgrosse Unternehmen, die einen höheren Anteil an variabel verzinslichen Schulden haben, spüren bereits heute die Belastung durch die höheren Zinssätze.

Das Gewinnwachstum ist immer noch gesund. Allerdings beginnt sich das Umsatzwachstum zu verlangsamen?

Der Verbraucher wird preissensibler, da die während der Pandemie durch staatliche Unterstützung angesammelten überschüssigen Ersparnisse aufgebraucht sind. Gleichzeitig sind die Zins- und Arbeitskosten gestiegen. Dies führt zu sinkenden Margen und schwächeren Gewinnen, was sich auf die Aktienbewertungen auswirken wird.

Tiffany Wilding ist Managing Director und Ökonomin bei PIMCO in Newport Beach, USA. Sie leitet das Cyclical Forum von PIMCO, erstellt den Ausblick für die Weltwirtschaft und analysiert wichtige Makrorisiken für den Investmentausschuss des Unternehmens.

Thomas Daniel Marti
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