cash.ch: Am Dienstag wird der Landesindex der Konsumentenpreise für die Schweiz veröffentlicht. Im Dezember lag der Wert bei 1,7 Prozent. Welche Inflationszahl für den Januar erwarten Sie?

Thomas Gitzel: Ich gehe davon aus, dass die Inflationsrate auf 1.9 Prozent steigen wird.

Höhere Mieten, höhere Strompreise, höhere Mehrwertsteuer: Rechnen Sie damit, dass die Inflation im Jahr 2024 trotzdem im Zielband der Schweizerischen Nationalbank bleibt, nämlich zwischen 0 und 2 Prozent?

Die Inflationsrate kann kurzzeitig über die 2-Prozent-Marke steigen, sie wird aber in der Mehrzahl der Fälle in diesem Zielband liegen.

Die SNB richtet sich bei den Zinsentscheiden stark nach den 'Vorgaben' der Europäischen Zentralbank und der US-Notenbank. Wann rechnen Sie dort mit Zinssenkungen? Wer macht den ersten Schritt?

Die EZB als auch die Fed dürften zur Jahresmitte, das heisst im Juni, mit Zinssenkungen beginnen. Das ist zumindest im Moment noch mein Hauptszenario. Möglicherweise beginnt aber die EZB bereits bei ihrer Sitzung im April mit einem geldpolitischen Lockerungskurs. Die EZB hat Konjunkturnöte, vor allem mit Blick auf die grösste Volkswirtschaft der Eurozone, nämlich Deutschland. Kurzum: Die EZB könnte unter Umständen den ersten Schritt machen. Die SNB wird aus unserer Sicht im laufenden Jahr keine Zinssenkung vollstrecken. Zum einen liegt der Leitzins mit 1.75 Prozent nicht besonders hoch, zum anderen bestehen in der Schweiz ja noch gewisse Inflationsrestrisiken.

Wann rechnen Sie demzufolge mit einer ersten Zinssenkung der Schweizerischen Nationalbank?

Die SNB wird erst im Jahr 2025 den Leitzins senken.

Der Franken hat sein 'aufgewertetes' Niveau vom Jahresende 2023 gegenüber dem Euro halten können und handelt seither zwischen 93 und 94 Rappen pro Euro. Kann die SNB mit diesem Kurs leben?

Die Frage ist vielmehr, ob die Schweizer Exportindustrie mit diesem Wechselkurs leben kann. Die Exportentwicklung fiel zuletzt unter die 'Rubrik' solide. Unternehmensumfragen zeigen, dass der starke Franken zwar ein grundsätzlicher Belastungsfaktor ist, allerdings weit weniger als etwa im Jahr 2015. Der starke Franken hat den eidgenössischen Exportunternehmen nicht nur geschadet, sondern auch während der vergangenen Jahre genutzt. Der stellenweise massive Anstieg von Industriegütern an den Weltmärkten konnte mit dem starken Franken abgefedert werden. Die SNB kann also mit dem aktuellen Wechselkursniveau leben, die eidgenössischen Währungshüter dürften aber andererseits eine weitere Aufwertung auch nicht weiter tolerieren.

Eben: Von Roche über viele Industrieunternehmen bis zur Privatbank Pictet: Der starke Franken nagt an den Gewinnen der Schweizer Unternehmen. Nicht alle Firmen können wegen des starken Franken als Ausgleich auch billig Waren im Ausland einkaufen. Wie gross ist das Problem?

Wenn wir uns über die Grösse eines Problems unterhalten, müssen wir auf die gesamtwirtschaftlichen Daten schauen. Und gesamtwirtschaftlich scheint dies bislang nicht allzu schwer zu wiegen. Im dritten Quartal 2023 wuchsen die Exporte, real wohlgemerkt, um Wertsachen bereinigt um 6,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Damit erwiesen sich die Ausfuhren als überraschend stark. Richtig ist aber, dass im Ausland erwirtschaftete Gewinne bei einer Aufwertung des Franken weniger nominal im Inland Wert sind. Dabei handelt es sich um sogenannte Transaktionseffekte. Dies sagt aber nichts über die operativer Ertragskraft eines Unternehmens aus.

Ab welchem Kurs-Niveau würde die SNB, wenn überhaupt, wieder Devisen kaufen, um den Franken zu schwächen? Bei Zinssenkungen, der Alternative zu Devisenkäufen, hat sie ja nicht überaus grossen Spielraum.

Es scheint so, dass die SNB derzeit bereits wieder mit kleineren Volumina an den Devisenmärkten aktiv ist, das heisst, sie kauft jetzt wieder Devisen. Dies legt zumindest die Entwicklung der Sichteinlagen bei der SNB nahe. Letztere sind seit Jahresbeginn wieder gestiegen. Um die Frage konkret zu beatworten: Es dürfte derzeit der Fall sein, dass die SNB interveniert, wenn der Franken die Marke von 0,93 gegenüber dem Euro zu unterschreiten versucht.

Mit welchen Franken-Niveau zum Euro rechnen Sie bis Jahresende?

Es mag sich langweilig anhören, aber ich rechne mit keinen grösseren Bewegungen in diesem Jahr. Der Wechselkurs dürfte sich in einer Spanne zwischen 0,93 und 0,98 bewegen.

Welches sind denn die grössten Risiken für die Schweizer Wirtschaft 2024?

Das grösste wirtschaftliche Risiko für die exportstarke Schweizer Wirtschaft liegt im Ausland. Ein grösserer Einbruch der Konjunktur in der Eurozone würde auch die eidgenössischen Unternehmen hart treffen.

Dauerstreiks, wirtschaftlicher Abschwung, politischer Streit: In Deutschland ist die Stimmung nicht gut. Hat dies Auswirkungen auf die konjunkturelle Entwicklung? Und kann das auch auf die Schweiz abfärben?

Zunächst einmal muss die Situation in Deutschland richtig eingeordnet werden. Deutschland leidet primär unter der schwachen Weltwirtschaft. Kein anderes G7-Land hat so einen hohen Exportanteil am Bruttoinlandsprodukt wie Deutschland. Das Nachbarland kann andererseits der schwachen Exportwirtschaft keine binnenwirtschaftliche Dynamik entgegensetzen. Deshalb ist die Stimmung so schlecht. Für die Schweiz ist Deutschland nach den USA die wichtigste Exportdestination. Insofern schlägt die wirtschaftliche Schwäche in Deutschland auch auf die Schweiz durch. Aber beide Nationen, also sowohl Deutschland als auch die Schweiz, hängen mit ihren Industrien an internationalen Lieferketten. Will heissen, verbessert sich die Situation in Deutschland, wird dies auf einen besseren Welthandel zurückzuführen sein, wovon dann ganz automatisch auch die Schweiz profitiert.

In Argentinien will der neue Präsident, der ultraliberale Rechtspopulist Javier Milei, das Land einer 'Schocktherapie' unterziehen und die Wirtschaft massiv deregulieren. Wird er Erfolg haben oder grandios scheitern?

Aus meiner Sicht lautet die Antwort: Er wird scheitern. Javier Milei hat per Dekret seine Vorhaben gestartet. Die Folgen sehen wir: Demonstrationen und einen Generalstreik. Darüber hinaus hat ein Gericht Teile des präsidialen Dekrets bereits wieder gestoppt. Der Peso wurde als weitere Massnahme um 50 Prozent abgewertet, was die Inflation jüngst auf schier unglaubliche 211 Prozent anstiegen liess. Die Preise steigen also immer schneller. Sorgen und Frustration machen sich nun in breiten Bevölkerungsmassnahmen breit. 'Schocktherapien' sind also meist zum Scheitern verurteilt, weil von der Bevölkerung zu viel abverlangt wird. Gutes Beispiel ist auch die Slowakei: Im Jahr 2004 startet die damalige Regierung einen liberalen Kurs, unter anderem mit der Einführung einer Einheitssteuer. Und auch in der Slowakei wurden grosse Teile der liberalen Wirtschaftspolitik wieder zurückgenommen.

Daniel Hügli
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