cash.ch: Die Börsen befinden sich seit Mitte Mai in einer Konsolidierungsphase. Wie ordnen Sie den Zustand des Schweizer Aktienmarkts ein?

Fabienne Hockenjos-Erni: Wir beobachten seit einigen Monaten eine Diskrepanz zwischen dem fundamentalen Umfeld und der Entwicklung an den Aktienmärkten. Entsprechend erstaunt eine Konsolidierungsphase nicht. Ich erwarte in den kommenden Wochen einen Anstieg der Volatilität und schliesse kurzfristig eine Kurskorrektur an den globalen Aktienmärkten nicht aus. Den Schweizer Markt erachte ich angesichts dieser Ausgangslage als attraktiv. Die Kombination aus defensiven Charakteristika kombiniert mit attraktiven Wachstumsopportunitäten und hoher Qualität besticht im derzeitigen Umfeld. 

Was sind die nächsten Katalysatoren für die Aktienmärkte?

Wir sehen kurzfristig mehr negative Katalysatoren, deshalb sind wir eher defensiv ausgerichtet. Die hartnäckige Inflation wird die Notenbanken weiter zu einer restriktiven Geldpolitik zwingen und die konjunkturelle Entwicklung kurzfristig in den Hintergrund drängen. Dies haben in den letzten Wochen zahlreiche Äusserungen von Notenbankern rund um den Globus gezeigt. Angesichts des schwachen Wirtschaftswachstums dürften die Gewinnerwartungen für das laufende Jahr noch zu hoch sein. Mit Blick auf die bevorstehende Berichtssaison dürften sich die negativen Revisionen der Guidances häufen. Ein positiver Katalysator wäre eine deutliche Abschwächung des Inflationsdrucks, was eine Kehrtwende der Geldpolitik erlauben würde und das erhoffte Softlanding gelingt.

Ist ein 'Soft Landing' der Wirtschaft überhaupt noch realistisch?

Eine konjunkturelle Delle muss nicht eine tiefgreifende Rezession bedeuten, aber das Wirtschaftswachstum wird im laufenden und wohl auch im nächsten Jahr deutlich unterdurchschnittlich ausfallen. Es hilft dabei nicht, dass auch der erhoffte Wachstumsschub aus China nach der Beendigung der Zero-Covid-Politik ausbleibt oder zumindest deutlich tiefer ausfällt als erwartet. Ich rechne nicht mit einer globalen Rezession. Aber wie bereits in der Eurozone eine technische Rezession - zwei negative Wachstumsquartale in Folge - Realität geworden ist, könnten auch weitere Regionen dazukommen. 

Konjunktur oder Geldpolitik: Welches Themengebiet wird die Märkte bis Ende Jahr mehr prägen?

Kurzfristig dürfte die Konjunktur Überhand gewinnen. Es dürfte eine gewisse Anpassung der Markterwartungen stattfinden, was Druck auf die Börse auslösen kann. Die Geldpolitik wird dann wieder zu einem prägenden Faktor werden, wenn der Zinserhöhungszyklus zu einem Ende gekommen ist, respektive wenn eine Abkehr von der restriktiven Zinspolitik absehbar ist. Der Zinspeak dürfte in diesem Jahr noch erreicht werden, Zinssenkungen sind jedoch nicht vor 2024 zu erwarten. 

Werden die Notenbanken angesichts der Konjunktureintrübung nicht schneller die Zinsen wieder senken?

Nicht so schnell, wie das der Markt noch vor ein paar Wochen erwartet hat. Das ist auch ein möglicher Enttäuschungsfaktor für die nächsten Wochen. Wir glauben, dass die Zinsen länger hoch bleiben werden. So lange, bis eine nachhaltige Entspannung seitens Entwicklung der Kerninflation zu beobachten ist. Die Notenbanken – allen voran die Fed - wollen nicht nochmals denselben Fehler machen wie zu Zeiten des sogenannten Volcker-Schocks vor über 40 Jahren. Damit besteht eher das Risiko, dass die Geldpolitik zu lange straff bleibt und eine konjunkturelle Delle nicht vermieden werden kann. 

Warum ist derzeit die Bankenkrise kein Thema mehr?

Ich würde nicht sagen, dass das Thema verschwunden ist, der Fokus hat sich jedoch verlagert. In den USA wurden die gefallenen Regionalbanken von grossen Geldhäusern mit breiterem Tätigkeitsfeld geschluckt. In der Schweiz beschäftigt sich das UBS-Management mit der Integration der CS. Das gestiegene Zinsumfeld, der Auslöser der amerikanischen Regionalbankenkrise, könnte durchaus noch mehr Gefahrenherde zum Vorschein bringen. Wir erachten die Situation jedoch als deutlich stabiler als vor der Finanzkrise. Die Regulatoren, Notenbanken und Regierungen haben gelernt, was «whatever it takes» bewirken kann und man ist bereit, vehement einzugreifen. Das antizipiert der Markt. Weiter steigende Zinsen, Auswirkungen auf den Häusermarkt oder allfällige Häufungen von Kreditausfällen könnten das Thema zu einem späteren Zeitpunkt jedoch wieder in den Fokus von Investoren rücken. 

Was dürfen Anlegerinnen und Anleger als Konsequenz vom restlichen Börsenjahr erwarten?

Wir bleiben kurzfristig vorsichtig, rechnen jedoch nicht grundsätzlich mit einem schlechten Börsenjahr. Wir blicken auf ein erstes Halbjahr mit erfreulichen Gewinnen zurück, eine Kurskorrektur wäre angesichts des sich eintrübenden fundamentalen Umfelds also nicht überraschend. Allfällige Rücksetzer können für den weiteren Jahresverlauf jedoch attraktive Einstiegsopportunitäten eröffnen.

Welche Erwartungen haben Sie an die anlaufende Berichtssaison?

Wir sehen bei Zulieferern für den Healthcare-Bereich, Chemiefirmen, Finanzwerten und im Technologiesektor die Gefahr von weiteren Enttäuschungen. Im Umfeld der Zulieferer - vor allem bei Auftragsfertigern wie Lonza oder Bachem - ist das Finanzierungsumfeld die grosse Herausforderung. Kleinere Biotechfirmen haben finanzielle Engpässe, was dazu führt, dass Studienprogramme verzögert werden. Chemiefirmen spüren die Abschwächung der Wirtschaft. Die Nachfrage vor allem bei industriellen Endmärkten hat sich deutlich abgeschwächt. Bei den Finanzwerten sehen wir ein gewisses Enttäuschungsrisiko aufgrund der geringen Kundenaktivität und im Technologiesektor besteht unserer Ansicht nach ein gewisses Enttäuschungspotenzial bei Halbleiterzulieferern. Die zyklische Korrektur im Halbleitersektor läuft und führt unter anderem zu einem ausgeprägten Lagerabbau. 

Auf was sollten Anleger setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte? 

Wachstumsaktien haben 2022 stark gelitten. Wir sehen hier für langfristige Investoren noch immer gute Opportunitäten für einen Einstieg. In der Schweiz setzen wir noch immer auf erfolgreiche Wachstums-Stories wie Lonza, Straumann, Tecan, VAT, Comet oder Sensirion. Aufgrund unserer vorsichtigen Haltung für die kommenden Wochen liegt unser Fokus kurzfristig auf guter Qualität, also Unternehmen mit soliden Bilanzen und wenig Finanzierungs-Bedarf. Eine Beimischung von Substanzaktien mit attraktiver Dividendenausschüttung kann sich in einem Umfeld hoher Bewertungen und Unsicherheit ebenfalls als gute Taktik herausstellen.

Wo sehen Sie angesichts der hohen Zinsen Finanzierungsprobleme?

Die gestiegenen Finanzierungskosten werden sich auf alle Branchen durchschlagen. Über die letzten Jahre haben sich die Unternehmen aufgrund der tiefen Zinsen langfristig refinanziert, entsprechend dürfte das Problem also erst über die Zeit sichtbar werden. Betroffen sind hier vor allem kapitalintensive Geschäftsmodelle und kleinere Firmen mit beschränkterem Zugang zu den Kapitalmärkten. Das Risiko von Kreditausfällen wird derzeit am Markt unterschätzt. Aufgrund der attraktiven Verzinsung und der tieferen Bewertungen bevorzugen wir bei Unternehmensanleihen derzeit Investitionen im Investment Grade-Bereich und meiden das High-Yield Segment.  

Was sind im Hinblick Ihres Marktausblicks die Schweizer Gewinneraktien für das restliche Jahr 2023?

Wir sehen diverse attraktive Stories. Auf der Technologieseite erachten wir Comet oder Sensirion als attraktiv. Comet scheint uns als einer der führenden Hersteller von Hochfrequenz- und Röntgentechnologie für die Halbleiterindustrie sehr gut positioniert um vom langfristigen Wachstumspotenzial der Branche zu profitieren. Bei Sensirion verorten wir ebenfalls attraktive Aussichten und halten den Zeitpunkt für Neuengagements aktuell für interessant. Zudem erachten wir nach der Kurskorrektur, die im Zusammenhang mit dem erwähnten Enttäuschungspotenzial steht, Lonza, Tecan und Ypsomed als spannend. Lonza, dem global führenden CDMO mit starkem Wachstum in den kommenden Jahren, Tecan – als führender Nischenhersteller im Bereich der Laborautomation und Ypsomed, der als führender Hersteller von Medikamenten-Verabreichungssystemen vom Trend der Heimverabreichung und ist ein Thematisches Investment auf den Fettleibigkeitsmarkt profitiert.

Titel wie DocMorris, VAT, Autoneum oder Swissquote sind dieses Jahr mehr als 30 Prozent gestiegen. Bei welchen Aktien bieten sich Gewinnmitnahmen an?

VAT hatte wie sie sagen einen sehr guten Lauf und wir können uns durchaus vorstellen, dass eine kurzfristige Konsolidierung ansteht. Aufgrund des langfristig äusserst attraktiven Investment Case würden wir eine solche Phase aber eher für Zukäufe nutzen und an bestehenden Positionen festhalten. Gewinnmitnahmen bieten sich unserer Ansicht nach eher bei Temenos an. Die Aktie hat seit Jahresbeginn inklusive Ausschüttungen mehr als 40 Prozent zugelegt, während die Ernennung eines neuen CEOs noch aussteht. Bei Autoneum könnten kurzfristig tatsächlich Gewinne mitgenommen werden, nicht zuletzt, da die Bewertung im Vergleich zu anderen Autozulieferern eher teuer erscheint.  

Welche Schweizer Titel sehen Sie im gegenwärtigen Marktumfeld als grosse Verlierer?

Derzeit erachten wir u-blox, ams-OSRAM, Sonova und Adecco als weniger attraktiv. u-blox aufgrund der hohen Volatilität der operativen Entwicklung. Der Nachweis zu nachhaltiger Stabilisierung steht aus und die hohen aktivierten F&E-Ausgaben in der Bilanz stimmen uns vorsichtig. Für ams-OSRAM ist 2023 weiteres Übergangsjahr. Die Hoffnung auf MicroLED-Geschäft erscheint uns aktuell noch zu unsicher, um die Aktie nachhaltig attraktiv zu machen. Bei Sonova erachten wir Marktanteilsverluste sowie Risiken im Zusammenhang mit OTC-Hörgeräten und damit verbundenem Preisdruck als Gefahrenherde und zuguterletzt sind wir zurückhaltend bei Adecco mit Blick auf die wirtschaftliche Verlangsamung, die schlecht für Personalvermittler ist. Zudem führt die Akka-Integration immer noch zu Sonderkosten.

Welche Schweizer Aktien gehören langfristig in jedes Portfolio?

Neben den drei Schwergewichten würde ich sagen Swiss Life, Givaudan, Partners Group, ABB und Holcim. Swiss Life profitiert vom steigenden Bedarf an Pensionslösungen und Altersvorsorge und hat noch viel Potenzial. Givaudan mit der Vorreiterstellung als weltweit grösster Hersteller in der attraktiven Aroma- und Duftstoffindustrie. Partners Group, als Spezialist für Privatmarktanlagen und ABB als Profiteur vom Trend in Richtung erneuerbare Energien, Digitalisierung sowie Automatisierung und nicht zu vergessen Holcim. Deren Transformation in Richtung eines weniger zement- und energieintensiven Baustoffherstellers und als Profiteur von globalen Infrastrukturprogrammen bringt viel Kursfantasie mit sich.

Welche Megatrends sehen Sie derzeit als besonders prägend für das Wirtschaftsgeschehen? 

Wir glauben stark an die Megatrends Klima, Digitalisierung und Demographie. Dort verorten wir auch attraktive langfristige Investitionsmöglichkeiten. KI gehört zum Thema der Digitalisierung und wird sicherlich das Weltgeschehen signifikant prägen. KI ermöglicht neue Anwendungen sowie Innovation und wird in diversen Wirtschaftszweigen zu enormen Effizienzsteigerungen beitragen. Die Profiteure werden breit gefächert sein. In der Schweiz dürften zu diesen Profiteuren die Halbleiterzulieferer wie Inficon, VAT oder Comet gehören, wenngleich das Ausmass heute noch schwer abzuschätzen ist. Aber auch andere Unternehmen dürften von den Effizienzgewinnen durch den Einsatz von KI in ihren Produkten oder bei der Prozessoptimierung profitieren.

Fabienne Hockenjos-Erni ist seit Juni 2020 Anlagechefin bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB). Davor war sie im Unternehmen unter anderem als Leiterin Investment Research tätig. Zu ihren früheren Stationen zählt die Notenstein La Roche Privatbank sowie der Versicherungskonzern Baloise

Fabienne Hockenjos-Erni beantwortete die Fragen schriftlich.

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